Auch die Schweiz mauert an der Festung Europa
Griechenland hat sich gegen unerwünschte Einwanderer gewappnet, wie sich während einer Reise entlang des Grenzflusses Evros am äussersten Rand Europas zeigt. Unterstützt wird das exponierte Krisenland von der EU-Grenzagentur Frontex, bei der auch die Schweiz mitmacht – nicht ganz uneigennützig.
Zusammen mit ihrem rumänischen Kollegen sitzt Daniela Looser im Frontex-Büro in Kipi, einem offiziellen griechischen Grenzübergang zur Türkei. Zwei Kilometer weiter östlich liegt der türkische Grenzposten, dazwischen der Fluss Evros, der auf einer Länge von 185 km die Grenze zwischen den beiden Ländern bildet.
Die 27-jährige Ostschweizer Grenzwächterin ist seit drei Wochen im Land. Es ist ihr erster Einsatz im Rahmen der europäischen GrenzschutzagenturExterner Link und ihr erster Aufenthalt in Griechenland überhaupt. Griechisch kann sie nicht. Am Grenzposten wird unter den Kollegen in der Regel Englisch gesprochen.
Normalerweise arbeitet Looser im St. Galler Rheintal. Sie bewarb sich um einen Platz im Schweizer Frontex-PoolExterner Link, weil sie den Schengenraum an seiner Aussengrenze kennenlernen wollte. Angestellt und bezahlt ist sie von der Schweiz, Frontex koordiniert die Einsätze und übernimmt die Einsatzkosten, operativ zuständig ist Griechenland.
Illegale Einreisen verhindern
Bei ihren Tag- und Nachtschichten am Grenzübergang Kipi trägt Daniela Looser die blaue Uniform des Grenzwachtkorps, am rechten Arm eine Frontex-Binde, am Gurt ihre Dienstwaffe. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört es, die Dokumente der Einreisenden auf Echtheit zu prüfen, um illegale Einwanderung zu verhindern. «Gefälschte Pässe oder Visa kommen häufig vor.»Im Gegensatz zur Schweiz, wo seit dem Beitritt zu Schengen an der Grenze Ausweise grundsätzlich nur bei Zollkontrollen überprüft werden können, ist die Überprüfung von Einreisenden an der Schengen-Aussengrenze Pflicht. «Jeder und jede wird kontrolliert.» Ansonsten sei die Arbeit in Kipi gleich wie im Rheintal, sagt Looser: «Überall auf der Welt wollen die Menschen einfach von A nach B.»
Auch auf das Durchsuchen von Fahrzeugen ist die gelernte Gärtnerin spezialisiert. «Grundsätzlich kann man in jedem Fahrzeug Menschen verstecken – ob Smart oder Lastwagen». Mehr sagt sie nicht. Frontex-Mitarbeiter unterliegen bei taktischen Auskünften strengen Diskretions-Vorschriften.
«Wir arbeiten nach den Gesetzen des Einsatzlandes und sind unterstützend tätig. Den Griechen muss man nicht zeigen, wie der Grenzschutz funktioniert, das wissen sie selber», so Daniela Looser.
Von Kipi fahren wir 80 Kilometer Richtung Norden dem bewaldeten Ufer des Evros entlang. Auf der anderen Seite des Flusses liegt die Türkei. Von dort aus versuchen Migranten immer wieder, in Schlepperbooten nach Europa zu gelangen. Sie stammen aus Afghanistan, Irak, Syrien oder Somalia.
Hier an diesem Fluss haben sich schon unzählige Dramen abgespielt. Doch heute ist es ruhig. Es sind weder Grenzwächter noch Hundepatrouillen zu sehen. Vielleicht sind sie irgendwo hinter Bäumen und Hecken verborgen? Mit der Zunahme von Migranten hat Griechenland in den letzten Jahren seine Kontrollen massiv hochgefahren und überwacht die Evros-Region auch mit Helikoptern, Nachtsichtgeräten und Wärmekameras – in Zusammenarbeit mit Frontex.
Noch vor zwei, drei Jahren verlief die Flüchtlingsroute vermehrt über den schmalen Landstrich im Norden, wo nicht der Evros, sondern Wiesen und Felder die Grenze bilden. Jeden Tag überquerten Hunderte illegal diese grüne Grenze. Seit Anfang 2013 steht dort ein 12,5-km langer Stahlzaun, der ein Überqueren der Grenze fast verunmöglicht.
Auf dem Polizeiposten der Stadt Orestiada treffen wir den Polizisten Panos Zevgolatakos, Vize-Chef der Grenzkontrolle des Bezirks. Er fährt uns durch Getreide- und Sonnenblumenfelder. 500 Meter vor dem Grenzzaun beginnt militärisches Sperrgebiet, eine junge Soldatin und ihr Kollege stehen Wache, die Maschinenpistolen im Anschlag.
Ein Oberstleutnant eskortiert uns durch die Militärzone. 15 Minuten lang dürfen wir den 4-m-hohen mit Stacheldrahtrollen bestückten Doppelzaun besichtigen und fotografieren. Hinter dem umstrittenen «eisernen Vorhang» liegt noch etwa ein Meter griechischer Boden, dahinter die Türkei – türkisches Territorium dürfen wir nicht fotografieren, und der Oberstleutnant darf auch nicht aufs Bild.
Die Griechen sind routiniert im Umgang mit ausländischen Besuchern. «Seit der Errichtung des Zauns empfingen wir rund 100 Gruppen», erklärt Zevgolatakos. CNN war hier, TV-Teams aus Australien, Japan, Deutschland. Und im April 2013 besuchte uns die Schweizer Justizministerin – wie hiess sie schon wieder? Genau: Simonetta Sommaruga.»
Verschiebung der Migrationsroute
«Seit der Errichtung des Grenzzauns, den verstärkten Kontrollen entlang des Evros und seitdem auch Bulgarien einen Grenzzaun hochzieht, ist der Druck auf die gefährliche Transitroute übers Meer gestiegen», sagt Elias Anagnospopoulos, Direktor von Amnesty InternationalExterner Link Griechenland.
Frontex und Griechenland
Seit 2008 ist die Route via Türkei nach Griechenland und Bulgarien in den EU-Raum zu einem Hotspot geworden. Es kommen vor allem Afghanen und Somalier und vermehrt auch syrische Flüchtlinge. Schlepper sind hauptsächlich in Istanbul, aber auch in Izmir, Edirne und Ankara aktiv.
2008-2009 machten die Migranten, die über diese Route kamen, mit über 40’000 rund 40% des EU-Totals aus. 2010 wurden über 55’000 registriert. Darauf entsandte Frontex ihr erstes Rapid Border Intervention Team (RABIT) mit 191 Grenzwächtern, um die griechischen Behörden an der Grenze zu unterstützen.
2011 wurden gar 57’000 Migranten aufgegriffen, 2012 waren es 37’200, 2013 noch 24’800.
In der Operation Poseidon Land in Griechenland von März 2013 bis März 2014 beteiligten sich 535 Grenzwächter. Dabei wurden 186 Schlepper aufgegriffen.
(Quelle: Frontex)
«Immer wieder kommt es zu so genannten Pushbacks, wo Flüchtende von Küsten- und Grenzwächtern ins Meer oder ans andere Flussufer zurückgestossen werden – ein klarer Verstoss gegen die Menschenrechte.»
So seien, um nur ein Beispiel zu nennen, am 20. Januar 2014 elf afghanische und syrische Flüchtlinge, darunter acht Kinder, in der Nähe der griechischen Insel Farmakonisi ertrunken, als die griechische Küstenwache das Boot in die Türkei zurückgeschleppt habe, erklärt der griechische AI-Direktor. Die griechischen Behörden bestreiten, dass es sich dabei um eine Rückschiebung gehandelt habe.
Wir sprechen den Polizisten Panos Zevgolatakos aus Oristiada auf die Pushbacks an. Er will von solchen Fällen noch nie gehört haben. «Wir respektieren die internationalen und griechischen Gesetze. Würde ich dagegen verstossen, käme ich ins Gefängnis.» Für die Verbreitung schlechter Nachrichten über Griechenland macht er Schlepperbanden verantwortlich.
Frontex distanziert sich klar von solchen Pushbacks und bezeichnet sie als illegal. Zudem mache Amnesty International griechische Beamte und nicht Grenzwächter aus anderen Staaten für solche Aktionen verantwortlich.
Dennoch weist AI der Grenzschutzagentur als Koordinatorin der gemeinsamen Operationen eine Mitschuld für die Menschenrechtsverletzungen zu. «Deshalb fordern wir Frontex auf, diese Operationen in Griechenland zu sistieren», erklärt Anagnospopoulos.
Der AI-Direktor Griechenlands beklagt im Weiteren, für den Grenzschutz werde weit mehr Geld locker gemacht als für den Schutz der Flüchtlinge. Er kritisiert auch den Rest der EU, der «glücklich ist, dass Spanien, Malta, Italien und Griechenland die Grenzwache erledigen. Wir verlangen von der EU eine menschlichere Asylpolitik. Wenn Asylsuchende oder irreguläre Einwanderer an unsere Tür klopfen, müssen wir sie anhören und abklären, ob sie ein Recht auf Schutz haben.»
Vorzeige-Zentrum
In Orestiada verabschieden wir uns von Zevgolatakos und fahren 15 km weiter Richtung Nordwesten nach Fylakio. Ausserhalb des Dorfes steht seit gut einem Jahr das Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge, die im Evros-Gebiet aufgegriffen werden.
In vier verschiedenen Gebäudeflügeln hat es Platz für 240 Flüchtlinge – Männer, Frauen, Kinder. «Dank dem Grenzzaun, Frontex sowie verstärkten Kontrollen ist die Zahl illegal Eingewanderter im letzten Jahr stark zurückgegangen», erzählt Christakoudis.
Frontex und die Schweiz
Als Schengen/Dublin-Mitglied nimmt die Schweiz seit 2011 an Einsätzen zur Überwachung der EU-Grenze teil. Sie verfügt über einen Pool von 40 Spezialistinnen und Spezialisten, die einmal pro Jahr einen rund vier-wöchigen Einsatz absolvieren.
Die Schweiz stellt u.a. Debriefing-Spezialisten zur Verfügung, also Grenzwächter, die Interviews mit Migranten durchführen, um an Informationen über Schlepper und Routen zu kommen.
Entsandt werden auch Dokumenten- und Fahrzeugspezialisten sowie Grenzwächterinnen und Grenzwächter zur Geländeüberwachung.
2013 leistete die Schweiz insgesamt 1257 Einsatztage. In Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden vor Ort wurden 2013 über 1000 illegale Einreisen, mehr als 400 Rückweisungen und über 100 Ausweisfälschungen registriert.
Der jährliche Beitrag der Schweiz an Frontex beläuft sich auf ca. 3,5 Mio. CHF.
(Quelle: Eidgenössische Zollverwaltung EZV)
Im Zentrum gibt es Catering, einen Putzdienst, TV, Telefon und Spiele für die mehrheitlich aus Syrien und Afghanistan stammenden Migranten. Nach Angaben des Koordinators werden die Ankömmlinge medizinisch und psychologisch abgeklärt und über ihr Asylrecht informiert. Auch Übersetzer sind vor Ort. «Nach maximal 15 Tagen kommen die Flüchtlinge in ein Aufnahmezentrum irgendwo in Griechenland oder reisen freiwillig in ihr Herkunftsland zurück, Minderjährige werden der Internationalen Organisation für Migration (IOM) übergeben.»
Wer kein Asyl beantragt, und das ist die Mehrheit (das Land steckt in der Krise und ist wenig attraktiv), riskiert, im schwer bewachten Ausschaffungsgefängnis (Detention Centre) gleich nebenan zu landen, ein Ort, der von internationalen Medien für seine unhaltbaren Zustände mehrfach kritisiert wurde.
Christakoudis scheint froh zu sein, mit dem Detention Center nichts zu tun zu haben. «Vielleicht ist das Gefängnis überbelegt, ich weiss es nicht, aber dafür bin ich nicht verantwortlich. Bei uns haben wir 240 Plätze und maximal 240 Insassen.»AI-Direktor Anagnospopoulos bezeichnet das Erstaufnahmezentrum in Fylakio als «Grand Hotel unter den griechischen Zentren». Das Gefängnis nebenan sei wie viele weitere Haftanstalten im Land aber eine andere Geschichte: «Überfüllt, keine oder mangelhafte medizinische Versorgung, Misshandlungen durch Wächter, über Monate kein Sonnenlicht.»
No Comment
Zum griechischen Asylwesen und politischen Fragen kann sich Andrea Hülsmann nicht äussern. Sie ist im Schweizer Grenzwachtkorps die Leiterin für internationale Einsätze und für 36 Stunden in die griechische Grenzregion geflogen, um sich mit Verantwortlichen der Frontex und des Einsatzlandes auszutauschen.
«Kontaktpflege und Informationsaustausch sind wichtig, ebenso, dass die Schweiz sich zeigt.» Von der professionellen Arbeit, die Frontex leistet, ist sie beeindruckt . «Die Einsätze sind für uns eine Bereicherung, auch wenn uns die Leute in dieser Zeit zu Hause fehlen.» Vergessen darf man aber nicht, dass auch die Schweiz profitiert, wenn illegale Einwanderer bereits an der Schengen-Aussengrenze gestoppt werden.
Am Grenzposten Kipi schiebt die Schweizer Grenzwächterin Daniela Looser unterdessen eine weitere Schicht. Bald sind ihre vier Wochen in Griechenland abgelaufen. Dann kommt hier der nächste Schweizer Grenzwächter zum Zug.
«Ich bewundere die Griechen, wie sie damit umgehen, jeden Monat neue «Gastarbeiter» einzuarbeiten. Von diesem Einsatz habe ich viel profitieren können und neue Kollegen, eine neue Kultur und ein Stück anderes Europa kennengelernt.»Schon bald wird sie wieder im St. Galler Rheintal Fahrzeuge kontrollieren und Reisedokumente überprüfen. Auch dort reisen die Leute, wie überall auf der Welt, von A nach B – aus welchen Gründen auch immer.
Frontex
Die europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen mit Sitz in Warschau gibt es seit 2004. Frontex koordiniert die gemeinsamen Einsätze der Mitgliedstaaten an den EU-Aussengrenzen. Ziel ist es, die illegale Migration in den Griff zu kriegen, Schlepper aufzugreifen und Informationen über Migrationsrouten zu bekommen.
Das Budget beläuft sich auf 88 Mio. Euro. Dem Pool gehören rund 1800 Grenzwächter aus der EU, aber auch aus der Schweiz an.
Frontex koordiniert den Einsatz von Schiffen, Helikoptern, Nachtsichtgeräten, Infrarotkameras und Suchhunden, die von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden.
(Quelle: Frontex)
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