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Auch Schadensbegrenzung rettet nicht alle Partnerschaften

Erasmus+ ermöglicht europäischen Studierenden die Teilnahme an Bildungsprogrammen und Projekten im Ausland. Keystone

Nach dem Ja des Schweizer Stimmvolks zur Wiedereinführung von Einwanderer-Kontingenten aus der Europäischen Union hat Brüssel die Schweiz vom Austauschprogramm Erasmus+ ausgeschlossen. Das provisorische Ersatzprogramm Berns konnte den Schaden für Studierende etwas abfedern, wie einige gegenüber swissinfo.ch berichten.


Felix Brizas einzige Chance, im Ausland zu studieren, hing nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 in der Schwebe. «Die Abgabefrist für den Erasmus-Antrag war bereits vorüber, also hätte ich keine andere Chance gehabt, anderswo einzusteigen», sagt der deutsche Student, der sich um eine Austausch-Position an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) beworben hatte. «Ich konnte nur noch hoffen.»

Briza versprach sich von einem Studium in der Schweiz, eine neue Sprache zu lernen, eine neue Kultur und die «verschiedenen Wissensebenen» kennenzulernen, die eine neue Universität seinem Maschinenbau-Studium bringen können. Zudem wollte er die «endlosen Möglichkeiten zum Ski- und Velofahren» in der Schweiz erleben.

Schliesslich wurde sein Traum doch noch wahr, weil die Schweizer Regierung versuchte, Studenten-Austauschprogramme mit einem neuen Netzwerk, dem Swiss European Mobility Programme (SEMP), zu retten. SEMP übernimmt die Kosten für Studenten, die ins Ausland gehen, wie auch für jene, die in die Schweiz kommen. Die kleinen Stipendien für die Lebenskosten werden direkt von der Schweizer Regierung gewährt, statt wie bisher von Ersamus+.

Für Briza war es sogar die bessere Lösung, wie er sagt. «Niemand beschwert sich, dass die Schweiz nicht mehr bei Erasmus dabei ist», besonders nicht, weil er und seine Mitstudierenden über das SEMP-Stipendium pro Monat mehr Geld erhalten würden, als ihnen Erasmus direkt ausgehändigt hätte. Zudem: «Erasmus hat den Ruf, dass seine Studenten nichts tun und nur Party machen. Wenn Du erwähnst, dass Du ein Schweizer Stipendium hast, tönt das viel besser», so Briza.

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SEMP scheint sich also in den meisten Fällen zu lohnen. Auch wenn die Anzahl der Austausch-Studierenden an Schweizer Universitäten am Anfang um 10 bis 38 Prozent einbrach, erwartet Gaëtan Lagger, der sich für die Schweizer Regierung um die internationalen Bildungsprojekte kümmert, dass sich die Zahlen rasch wieder erhöhen. Grund dafür seien die Kommunikationsbemühungen bei europäischen Bildungsinstitutionen.

Auch im Fall der Universität Glasgow, die im Herbstsemester 2014 einen geplanten Studentenaustausch mit der Schweiz unterbrechen musste, sollte nächstes Semester wieder Normalbetrieb herrschen. Laut Elizabeth Buie vom internationalen Medienbüro der Universität ist dies den Schweizer Bemühungen zu verdanken. «Die Anzahl Studierender ist gleich hoch wie damals, als die Schweiz noch beim Erasmus-Programm mitmachte», sagt sie.

Angelika Wittek, Leiterin der Mobilitätsstelle an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), erklärt, die Universität habe bis jetzt keine dramatische Abnahme der Zahlen von Austausch-Studierenden in beiden Richtungen verzeichnet und habe es geschafft, den Grossteil ihrer Austausch-Partnerschaften aufrecht zu erhalten.

«Vielleicht haben wir sogar Glück unter diesen Umständen, denn wir können zurück auf jenen Weg gehen, über den das Programm vor 2011 lief, als die Schweiz ein ’stiller Partner› bei Erasmus war», so Wittek. «Erasmus wird immer komplizierter – jetzt müssen die Studierenden sogar schon Dinge wie Sprachdiagnostik machen [bevor sie zum Austausch gehen]».

Das gesamte Erasmus-Programm wurde am 1. Januar 2014 unter dem Namen «Erasmus+» erneuert, um verschiedene Austausch- und Partnerschaftsprogramme unter einem Dach zu vereinen. Die Schweiz war lediglich Vollmitglied im Vorläufer-Programm von Erasmus+, dem «Lifelong Learning Programme» (LLP), bei dem sie von 2011 bis 2013 mitmachte.

Schlag für Schweizer Partnerschaften

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Michael Hayes und Claudia Dietschi haben die Vorteile der Vollmitgliedschaft der Schweiz in den EU-Partnerschaftsprogrammen selber beobachten können. Hayes ist ein Austauschstudent aus Kanada – und deshalb nicht bei Erasmus+ dabei –, doch er stellte fest, dass seine Kollegen von anderen europäischen Universitäten eine Chance erhalten, die sie sonst nicht gehabt hätten.

«Der Hauptgrund, weshalb ich ein Austausch-Studium machen kann, sind meine grosszügigen Eltern, und das ist schade. Jeder sollte diese Möglichkeit erhalten», sagt er.

Als Dietschi vor über einem Jahrzehnt zum Studium nach Wien gehen wollte – noch bevor die Schweiz die Bilateralen Verträge mit der EU unterzeichnet hatte oder Teil von Erasmus war –, musste sie für sich selber kämpfen und die Universität überzeugen, sie als Austausch-Studentin ohne Erasmus-Stipendium aufzunehmen. Zudem musste sie die vollen Studienkosten berappen. «Ich denke, für uns war es im Ausland viel schwerer vor den Bilateralen Verträgen», sagt sie.

Und der Studenten-Austausch ist nur einer jener Bereiche, in denen die Schweiz ohne Erasmus+ etwas zu verlieren hat. Weil Schweizer Bildungsinstitute nicht länger bei Kooperations- und Reformprojekten innerhalb dieses Programms mitmachen können, sind viele auf der Strecke geblieben.

Zum Zeitpunkt der Abstimmung über die Wiedereinführung von Kontingenten im Februar 2014 «waren viele Schweizer Bildungseinrichtungen bereits daran, Projekte zu koordinieren», sagt Lagger. «Innerhalb einiger Wochen mussten sie ihre Koordinationsaufgaben entweder an einen europäischen Partner abtreten und nur noch als stiller Partner in ihrem eigenen Projekt mitmachen, oder ihren Antrag zurückziehen.»

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Solche Partnerschaften beträfen beispielsweise die Entwicklung neuer Lehrgänge, das Austauschen bewährter Verfahren und die Erhöhung der Kooperation zwischen europäischen Universitäten und jenen Unternehmen, die deren Absolventen möglicherweise anstellen könnten, erklärt Florence Balthasar von Swiss Core, dem Verbindungsbüro des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) in Brüssel. Balthasar ist dort zuständig für die Entwicklung und Förderung von Schweizer Partnerschaften mit europäischen Schulen und Universitäten.

«Als wir Vollmitglied beim LLP waren, konnten wir Kooperationsprojekte koordinieren und leiten», sagt sie. «Wenn wir heute mitmachen wollen, steigen wir still mit unserem eigenen Geld ein und werden offiziell nicht anerkannt. Und falls wir es wagen, voll einzusteigen, können wir die Projekte nicht selber koordinieren.»

Die Leute davon zu überzeugen, dass die Schweiz etwas verliere, wenn sie von solchen Projekten ausgeschlossen bleibe, sei keine einfache Aufgabe, denn das Land sei lediglich von 2011 bis 2013 Vollmitglied gewesen. Auf Grund dieser kurzen Zeitspanne hätten viele Institutionen eben erst angefangen, die vielen Möglichkeiten zu nutzen.

«Wir waren neu im europäischen Bildungsprogramm, wir befanden uns noch in einer Lernkurve», so Balthasar. «Das ist nicht vergleichbar mit dem europäischen Forschungsprogramm [gegenwärtig Horizon 2020], bei dem wir seit 2004 dabei waren.»

Balthasar erwähnt in diesem Zusammenhang ein Unterprojekt von Erasmus+, bei dem die Schweiz überhaupt nicht mehr mitmachen kann: «eTwinning», eine virtuelle Plattform, die Primar- und Sekundarschulen erlaubt, Projekte und Ideen mit Klassen in anderen europäischen Ländern auszutauschen.

Zusätzlich zum Wegfall solcher Projekte ist es für Studierende aus der Europäischen Union ebenfalls nicht mehr möglich, Praktikumsstellen bei Schweizer Unternehmen zu erhalten. Etwas, was vorher problemlos möglich war.

«Im Normalfall haben wir einen bis zwei Studenten im Rahmen von Erasmus in Praktika bei Unternehmen oder Forschungsinstituten in der Schweiz geschickt. Unter Erasmus+ ist dies nicht mehr möglich», sagt Elisabeth Buie von der Universität Glasgow.

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Die Folgen des Herauswurfs der Schweiz aus dem Programm Erasmus+ seien besonders an Fachhochschulen, technischen Schulen und in Unternehmen zu spüren, sagt Lagger. Universitäten und Technologie-Institute verfügten über besser etablierte Netzwerke und Projekte.

Schadensbegrenzung

Peter Eigenmann ist Leiter der Fachstelle internationale Beziehungen an der Berner Fachhochschule. Er erzählt, sein Team habe grosse Anstrengungen unternehmen müssen, um so viele Partnerschaften mit europäischen Universitäten wie möglich zu erhalten. Viele habe man persönlich besuchen müssen, doch nicht alle Anstrengungen seien erfolgreich gewesen.

Und die Teilnahme an einem Austausch- und Partnerschaftsprogramm, mit dem ein Netzwerk von Professoren und ihrer Mitarbeiter mit jenen anderer europäischer Schulen geschaffen wurde, habe «drastisch abgenommen», auch wenn dieses in den letzten Jahren sehr erfolgreich geworden sei.

Tatsächlich arbeiteten Leute wie Wittek, Lagger, Balthasar und Eigenmann nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 praktisch rund um die Uhr, um den Schaden zu begrenzen und den europäischen Universitäten begreiflich zu machen, dass der Studenten-Austausch mit der Schweiz nicht am Ende sei.

Die meisten hätten dies verstanden und wollten die Partnerschaft aufrecht erhalten, sagt Balthasar. Doch es habe auch einige Opfer gegeben: Gewisse Universitäten in Spanien, beispielsweise, hätten sich dazu entschieden, überhaupt keine Studierenden mehr in die Schweiz zu schicken.

Die Frage ist nun, wie die Schweizer Teilnahme an europäischen Austauschprogrammen über die Überbrückungshilfe der Regierung hinaus in den nächsten Jahren finanziert werden soll. «Wir prüfen alle Optionen, die wir haben, und wir verfügen immer noch über ein Mandat, über die volle Teilnahme [bei EU-Programmen] zu verhandeln», sagt Gaëtan Lagger. «Das ist weiterhin unser Ziel. Doch die EU-Kommission hat ganz klar festgehalten, dass wir nur dann voll teilnehmen können, wenn wir die Sache mit dem freien Personenverkehr geregelt haben.»

Beteiligung der Schweiz an Erasmus+

Nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 muss die Schweiz wieder Quoten für Einwanderer aus EU-Ländern einführen, weshalb sie von einem «Programmland» zu einem «Partnerland» herabgestuft wurde.

Was bedeutet das? Dennis Abbott, Sprecher der Europäischen Kommission, erklärt.

«Als Partnerland hat die Schweiz wieder denselben Status, den sie hatte, bevor sie 2011 dem ‹Lifelong Learning Programme› beigetreten war (zu dem auch Erasmus gehörte). Das bedeutet, dass die Teilnahme von Schweizer Organisationen 2014 lediglich auf Kooperations-Aktivitäten in jenen Fällen beschränkt bleibt, wo eine Schweizer Teilnahme der EU einen klaren zusätzlichen Nutzen bringt.»

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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