Auf internationalem Parkett besser als zuhause
Halten die Staaten Wort, wenn sie versprechen, die Menschenrechte zu respektieren? Eine periodische, universelle Prüfung, der sich die Schweiz am 29. Oktober zum zweiten Mal stellt, gibt eine dokumentierte Antwort auf diese Frage.
Seit 2008 ist die Menschenrechtslage in allen Ländern der Erde vor dem Menschenrechtsrat in Genf der Öffentlichkeit ausgesetzt, dank eines neuen Mechanismus, der sich «Examen périodique universel EPU» (universelle, periodische Prüfung) nennt.
Vier Jahre hat es gedauert, bis alle 193 Mitgliedstaaten der UNO die Prüfung absolviert haben.
In diesem Jahr beginnt nun der zweite Zyklus der Prüfungen. Es sei eine entscheidende Etappe, sagt der Schweizer Menschenrechts-Experte Walter Kälin.
«Der zweite EPU-Zyklus ist für das Gelingen entscheidend. Er wird zeigen, ob es möglich ist zu überprüfen, ob die Staaten die beim ersten EPU-Zyklus akzeptierten Empfehlungen wirksam vollzogen haben. Wir befinden uns gegenwärtig ganz am Anfang des zweiten Durchgangs der EPU. Bis in ein oder zwei Jahren wird es möglich sein, anhand der bisherigen Erfahrungen die Wirksamkeit des Mechanismus zu beurteilen.»
Die Rolle der Zivilgesellschaft
Auf internationaler Ebene sei die EPU das Beste, was gemacht werden könne, sagt Kälin, der Direktor des Schweizer Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR).
«Abgesehen von den zwingenden Massnahmen des UNO-Sicherheitsrats – sie sind auf Verfahren im Zusammenhang mit den schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränkt – gibt es auf UNO-Ebene im Bereich der Menschenrechte keine eigentlichen Durchsetzungs-Mechanismen. Es gibt nur die Möglichkeit, den Staaten Empfehlungen zu machen, insbesondere im Rahmen der EPU.»
Laut Adrien-Claude Zoller, Präsident des Verbands «Genf für Menschenrechte», besteht die Gefahr, dass die Eigen-Evaluation der Staaten zur «Selbstbeglückwünschungs-Übung» verkommt: «Die Zivilgesellschaft wird in eine Rolle gedrängt, die zur Liturgie werden könnte. Deshalb sollten die Nichtregierungs-Organisattionen (NGO) eine Strategie entwickeln, die nicht nur neue Probleme aufdeckt, sondern auch auf der Einhaltung der bisherigen Engagements beharrt.»
Die Übung könnte so auch jenen Staaten gefährlich werden, die den Menschenrechten grundlegend feindlich gegenüber stehen. «Diese Staaten haben langsam Angst vor der EPU», sagt Zoller. Die Mehrheit der Staaten beteilige sich mit mehr oder weniger Enthusiasmus am EPU. Das gilt auch für die Schweiz, die ihre Prüfung Ende des Monats ablegt.
Die Schweiz macht mit
Nach dem ersten Examen vor vier Jahren sagte der Schweizer UNO-Botschafter Paul Seger: «Die Schweiz prüft die Massnahmen, die in den nächsten Monaten ergriffen werden müssen, um die Kontinuität der Prüfung sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass diese nicht auf eine einfache Genfer-Übung beschränkt bleibt, die alle vier Jahre stattfindet.»
Laut Claude Wild, dem Nachfolger an der Spitze der Schweizer Delegation, die am 29. Oktober dem Menschenrechtsrat gegenüberstehen wird, «pflegt der Minister für auswärtige Angelegenheiten ständige Kontakte mit NGO, die im Bereich Menschenrechte tätig sind. Diese Kontakte decken die ganze Palette der Menschenrechte ab».
Alain Bovard, Jurist in der Schweizer Sektion von Amnesty International, äussert sich kritischer: «Nach der ersten Prüfung von 2008 hat das EDA eine Sitzung einberufen. Danach herrschte während zweier Jahre Funkstille. Es gab keine Fortsetzung. Erst Anfang dieses Jahres wurde der Dialog unter der Ägide des SKMR wieder aufgenommen. Die NGO haben bei der Erarbeitung des Berichts der Schweiz, der die Erwartungen der NGO explizit erwähnt, Hand in Hand mit Claude Wild gearbeitet. Das trifft nur für wenige Länder zu.»
Was die Einhaltung der Verpflichtungen betrifft, welche die Schweiz bei der ersten Prüfung eingegangen ist, «gibt es weniger Fortschritte zu verzeichnen als erwartet», sagt Bovard.
Dieser Meinung ist auch Walter Kälin: «Die Schweiz hat einige wichtige Verpflichtungen akzeptiert. Aber sie hat bei der Umsetzung zu sehr gezögert. Das SKMR hat bei einer seiner Studien des letzten Jahres festgestellt, dass zwar auf schweizerischer Ebene zahlreiche Schritte unternommen, aber nur wenige Empfehlungen umgesetzt wurden.»
Die Parlaments-Bremse
Es mag erstaunen, dass sich ein Land, das sich international sehr aktiv für die Stärkung der Menschenrechte engagiert, selber schwer tut mit der Umsetzung der Empfehlungen. «Diese Diskrepanz zwischen diplomatischer Aktivität der Schweiz und jener der Behörden im innerstaatlichen Bereich scheint sich zu verstärken», sagt Alain Bovard.
«Es lässt sich mit der Aufgabenverteilung unter den verschiedenen politischen Ebenen der Eidgenossenschaft erklären. Alles, was die Aussenpolitik betrifft – dazu gehört auch der UNO-Menschenrechtsrat – ist Sache des Bundesrats (Regierung). Auf eidgenössischer Ebene hängt die Innenpolitik vom Parlament ab, das in Menschenrechtsfragen viel weniger sensibel ist als die Regierung.»
«Falsch», widerspricht Botschafter Claude Wild: «Das Parlament debattiert regelmässig direkt oder indirekt über Menschenrechte. Hinzu kommen die Antworten des Bundesrats auf Interpellationen und parlamentarische Fragen im Bereich Menschenrechte, die jedes Jahr an die Regierung gerichtet werden. Allein zum Thema ‹Wirtschaft und Menschenrechte› gab es seit Anfang 2011 insgesamt 29 parlamentarische Debatten.»
Wie die ständige Verschärfung der Massnahmen gegenüber Migranten und Ausländern zeige, «betreffen viele Empfehlungen, welche die Staaten gegenüber der Schweiz machen, deren Migrations- und Asylpolitik», sagt Alain Bovard. «Das aktuelle Klima in diesen Fragen ist sehr empfindlich. Der Bundesrat, der die 20 von ihm akzeptierten Empfehlungen umsetzen muss, wird vom Parlament häufig blockiert.»
Das sei ein unüberwindbares Hindernis, sagt Walter Kälin: «Der Mechanismus der EPU ist zu wenig bekannt. Was aber derzeit vor allem fehlt, ist ein kohärentes Verfahren für die Umsetzung der von der Schweiz angenommenen Empfehlungen, die es den Kantonen, den Städten und Parlamenten auf allen Ebenen erlauben, in diesem Mechanismus mitzuwirken.»
«Die meisten Staaten haben die Empfehlungen freiwillig akzeptiert. Es ist das erste Mal, dass die Länder ihre eingegangenen Verpflichtungen öffentlich anerkennen müssen und sich der Kritik der NGO stellen müssen, wenn diese Verpflichtungen nicht umgesetzt worden sind.
Deshalb ist es so wichtig, im Rahmen des zweiten Zyklus in allen Ländern den Schutz der Zivilgesellschaft zu erhöhen.
Tatsächlich bekunden viele Länder Mühe damit, die Verpflichtungen in die Praxis umzusetzen. Deshalb muss man die Verteidiger der Menschenrechte vor den Repressalien der Staaten schützen, die im Rahmen der EPU herausgestrichen wurden.
Es besteht eine grosse Gefahr, dass die NGO dieser Länder Opfer von Massenmorden werden, besonders in Asien.»
(Menschenrechts-Experte Adrien-Claude Zoller gegenüber swissinfo.ch)
«Der universelle Charakter der EPU hat ohne Zweifel dazu beigetragen, ihre Politisierung so weit wie möglich zu begrenzen. Die Schweiz hat beim ersten Zyklus insgesamt 430 Empfehlungen formuliert, von denen zwei Drittel akzeptiert wurden.
Dass jeder Staat freiwillig an der Prüfung eines Teils der Empfehlungen teilnehmen kann, öffnet viele Pisten, die eine Zusammenarbeit unter den Ländern stärken können.
Die Aktivitäten der Schweiz beschränken sich nicht nur auf Empfehlungen, sondern beziehen sich auch auf die konkrete Weiterverfolgung durch bilaterale Beratungen der betroffenen Länder.»
(Botschafter Claude Wild gegenüber swissinfo.ch)
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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