Auferstehung einer Vision auf Schweizer Strassen
Es ist wohl eine der ungewöhnlichsten politischen Ideen, die seit Jahrzehnten lanciert wurde. Die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle wollen genügend Unterschriften für eine Volksabstimmung über ihren idealistischen Vorschlag gesammelt haben.
«Totaler Blödsinn», wettert ein Mittvierziger, der durch den Haupteingang des Basler Bahnhofs hastet. Ein junger Aktivist mit einem Klemmbrett in der Hand wollte ihn ermuntern, seine Unterschrift für eine Initiative zu geben, die von einer Gruppe Leute ohne Unterstützung einer grossen politischen Organisation lanciert wurde.
Laut den Aktivisten ist es Zeit für eine breite politische Debatte über den Wert der Arbeit in der Gesellschaft und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich – und besonders über den Vorschlag, allen Einwohnern der Schweiz einen bedingungslosen, monatlichen Beitrag von 2500 Franken zu gewähren. Das Ziel dabei ist, allen ein Recht auf Selbstbestimmung und ein Leben mit weniger Druck zu garantieren, heisst es auf einem Flugblatt.
Obwohl die negative Reaktion des erwähnten Passanten bei weitem nicht die einzige ist, gehört dieser an dem kühlen Samstagmorgen zu einer Minderheit.
Einen Moment später gerät der junge Aktivist in eine lebhafte Debatte mit einem pensionierten Lehrer über den Wert der Arbeit und den nötigen Druck auf die junge Generation, eine Ausbildung und einen Job zu erlangen.
Der ergraute Bürger will seine Unterschrift nicht für die Initiative hergeben. «Es ist vielleicht eine gute Idee, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich realisieren lässt.»
Der Enthusiasmus des jungen Aktivisten bleibt ungebremst. Er gehört zu einem 5-köpfigen Team, das die öffentliche Diskussion zu geniessen scheint.
Und es lohnt sich: Ein 22-jähriger Mann in Militäruniform, der sich im Wochenend-Urlaub befindet, zieht es in Betracht, zu unterschreiben. Er wägt die Argumente für und wider die Initiative ab, bevor er Lob und Kritik gleichermassen verteilt.
«Es ist gut, dass über die Idee diskutiert wird», sagt er. Die Verfechter sollten den Eindruck vermeiden, dass es sich um Wohlfahrtsbeiträge und Almosen handle, weil dies potentielle Befürworter abschrecken könnte.
Harter Kern
Die Verfechter der Initiative haben idealistische Motive, die ein gesellschaftliches Tabu brechen könnten, nämlich jenes von «Arbeit und Geld».
Mark Balsiger, Politologe und PR-Experte, interessierte sich für die Kampagne vor allem, als sie lanciert wurde. Er ist erstaunt über die vielen Unterschriften, welche die Aktivisten gesammelt haben, weil er zweifelt, ob die als «Freunde der Initiative» aufgelisteten Persönlichkeiten prominent genug sind, Bürgerinnen und Bürger ausserhalb eines engen Kreises von Leuten mit humanistischen Idealen zu mobilisieren.
Mit ihren Aktivitäten auf der Strasse schafften die Aktivisten viel Sympathie, und ihre Website mache einen professionellen Eindruck, gemessen am mutmasslich bescheidenen Budget, das dafür zur Verfügung stehe, sagt Balsiger.
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Gewissheit
Die Initiative sei ein Versuch, «Gewissheiten auf politischer und philosophischer Ebene zu hinterfragen», sagt Politikexperte Michael Hermann. Im Unterschied zu andern Vorlagen, wie jene zur Armee-Abschaffung, zur Verwahrung pädophiler Straftäter oder zu radikalen Umweltmassnahmen habe die Initiative zum Grundeinkommen nur beschränktes Potential, um einen «Skandal zu provozieren».
«Der Hauptzweck der Initiative scheint eine umfassende Diskussion zu sein. Deshalb ist die Abstimmungskampagne die wichtigste Etappe», sagt Hermann. Es ist absolut legitim, aber es könnte das politische Thema für lange Zeit lahmlegen. Ein Sieg an der Urne zeichnet sich laut Hermann nicht ab.
In der Schweiz werden Unterschriften für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für jede Schweizer Bürgerin und jeden Bürger gesammelt. «Das Grundeinkommen soll der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen.»
Die Idee hat ihren Ursprung im Mittelalter. Unter dem Romantitel Utopia beschrieb der englische Humanist und Sozialphilosoph Tomas Morus eine auf rationalen Gleichheitsgrundsätzen, Arbeitsamkeit und Streben nach Bildung basierende Gesellschaft mit demokratischen Grundzügen.
Im 20. Jahrhundert gehörte der französische Sozialphilosoph André Goz zu den enthusiastischen Verfechtern eines garantierten Einkommens.
Versuche, ein bedingungsloses Einkommen einzuführen, wurden in verschiedenen Ländern unternommen, u.a. in Brasilien, Kuba, Mongolei, und – in eingeschränktem Mass – in Namibia und Deutschland.
Anstrengungen werden auch in der Europäischen Union und einzelnen europäischen Ländern unternommen.
In der Schweiz hatte die Bewegung für ein bedingungsloses Einkommen 2006 Auftrieb erhalten. Am 12. April 2012 wurde eine entsprechende Initiative lanciert. Die Initianten haben bis im Oktober Zeit, die nötigen 100’000 beglaubigten Unterschriften zu sammeln.
Gnadenlos
Auch in der Hauptstadt Bern sammeln an diesem garstigen Samstag Aktivisten Unterschriften für das gleiche Anliegen. «Es ist irritierend, wie wenig Leute in eine Diskussion verwickelt werden wollen», sagt Dani Häni, einer der führenden Promotoren des bedingungslosen Grundeinkommens.
Als ob sie dieser Aussage widersprechen möchte, nähert sich eine 40-Jährige der Unterschriften-Sammlungsstelle ausserhalb des Berner Bahnhofs. Sie unterschreibt, ohne zu zögern. Die Dame erweist sich als Expertin für Sozialwissenschaften und erklärt, dass sie die Debatte begrüsse, weil die aktuelle Sozialpolitik von Misstrauen geprägt sei.
Opposition
In der Geschäftswelt und unter Ökonomen hat die Initiative bisher sehr wenig Freunde gefunden, abgesehen von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen.
In einem letzten Oktober publizierten 11-seitigen Bericht warnt der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse vor einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit im Falle einer Annahme der Initiative.
Die Wirtschaftslobby lehnt den Vorschlag einer Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Finanzierung der Massnahmen ab und widerspricht Behauptungen, dass sich die Kosten für das nationale Sozialversicherungssystem verringerten, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt würde.
Die Gegner monieren, dass die Massnahme fast 140 Mrd. Franken pro Jahr kosten und die Konsumsteuer für die Finanzierung mehr als 50 Prozent betragen würde.
«So simpel und einleuchtend sich die Idee auch anhören mag – sie ist leider zu schön, um wahr zu sein», sagt der ehemalige Preisüberwacher Rudolf Strahm. «Die Idee sei auf den ersten Blick faszinierend, aber «Ernüchterung kommt auf bei der konkreten Vorstellung, dass Menschen vom Staat lebenslänglich als Berufsrentner unterhalten werden sollen».
Er bewundere das idealistische Menschenbild, das die Aktivisten förderten. Das Konzept der Initiative und das soziale Problem dahinter sollten ernst genommen werden. «Aber die Antwort darauf ist nicht zu Ende gedacht. Utopien und Visionen müssen nicht jede technische Frage im Voraus beantworten. Aber eine Utopie muss immerhin auch Grundsatzfragen in der Konfrontation mit der Realität beantworten.»
In den letzten Jahren gelangten in der Schweiz verschiedene Vorstösse auf die politische Agenda:
2012 ist eine Initiative der politischen Linken und Gewerkschaften zur Einführung eines Minimallohns zustande gekommen. Sie kommt demnächst ins Parlament. Eine Volksabstimmung darüber wird frühestens 2014 durchgeführt werden.
Noch in diesem Jahr dürfte das Stimmvolk wegen eines Vorschlags zur Eingrenzung der Managersaläre an die Urne gerufen werden. Die Initianten wollen die höchsten Einkommen in einem Unternehmen im Vergleich zu den niedrigsten auf ein Verhältnis von 12:1 reduzieren.
Zu Beginn des Jahres haben die Stimmenden Ja gesagt zu einer Vorlage zur Stärkung der Aktionärsrechte, um die Managersaläre zu dämpfen.
Bessere Welt
Die Initianten stellen sich gegenüber Kritikern nicht taub. Einer der prominenten Aktivisten, der ehemalige Regierungssprecher Oswald Sigg, ist überzeugt, dass man für eine gerechtere Welt und Einkommensverteilung kämpfen müsse, auch wenn es unmöglich scheine, eine Stimmenmehrheit zu erreichen. «Die Schweiz ist das einzige Land weltweit, wo man über eine utopische Idee abstimmen kann», sagt er.
Bis Ende Mai haben die Initianten mehr als 110’000 Unterschriften gesammelt. Es bleiben ihnen vier Monate, um ihre Kampagne abzuschliessen.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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