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Aus Brüssler Sicht ist die Schweiz alleine

Der Schweizer Rechtsanwalt Jean Russotto in Brüssel ist spezialisiert auf Steuer- und Bankprobleme. Tanguy Verhoosel

Das Jahr 2009 ist in vieler Hinsicht für die Schweiz verunglückt: UBS, Steuerstreit, Minarette, Libyen, Polanski... Mit welchen Folgen? swissinfo.ch befragte den Auslandschweizer Anwalt Jean Russotto, der seit 40 Jahren in Brüssel lebt.

Jean Russotto hat die Ereignisse des vergangenen Jahres aus der belgischen und EU-europäischen Perspektive mitverfolgt. Brüssel ist sowohl Hauptstadt Belgiens als auch Zentrum der wichtigsten EU-Institutionen.

swissinfo.ch: Die Umgehung der US-Gesetze durch die UBS hat dem Finanzplatz Schweiz und dem Bankgeheimnis ziemlich zugesetzt. Wie reagierte man in Brüssel darauf?

Jean Russotto: Die Folgen der UBS-Affäre sind in Brüssel hör-, sicht- und spürbar. Die Belgier, sonst immer in gutem Einvernehmen mit der Schweiz, haben begonnen, sich Fragen zu stellen. Und die EU-Funktionäre lachen sich derweil ins Fäustchen.

In den Büros der EU ebenfalls nicht unbemerkt geblieben ist das zwischen den USA und der Schweiz ausgehandelte Doppelbesteuerungs-Abkommen. Es könnte als Vorlage dienen, wenn es zu Neuverhandlungen der bilateralen Besteuerungs-Verträge kommt.

Die EU wünscht sich mehr Transparenz. Was die Schweiz anderen zugesteht, darf sie uns nicht vorenthalten, sagt man sich bei der Union.

swissinfo.ch: Um einem Auslieferungs-Begehren der Amerikaner zu entsprechen, wurde der Filmregisseur Roman Polanski in der Schweiz festgenommen. Er sitzt nun in Hausarrest in Gstaad. Wie reagierte man in Belgien auf diese Geschichte?

J. R. : Zuerst fielen die persönlichen Kommentare negativ aus. Dann hingegen wendete sich das Blatt. Man hält die Inhaftierung zwar für derb und hart, aber gerechtfertigt.

Ohne Zweifel sieht sich der Durchschnitts-Belgier in seiner Meinung über die Schweiz bestätigt. Ein zwar rigides Land, wo die Ordnung aber eingehalten wird – in Belgien selbst ist man sich daran nicht gewöhnt…

Die EU hingegen hat zur Polanski-Affäre keine Stellung bezogen. Es gibt keinen Anlass für sie, sich in eine Justiz-Angelegenheit einzumischen. Schlussendlich hat die Schweiz daraus auch keine Kollateralschäden davongetragen.

Die Schweizer Behörden sind auch ihrer Erklärungspflicht gut nachgekommen.

swissinfo.ch: Zwei Schweizer Bürger sind Geiseln des libyschen Machthabers. Diese Affäre dauerte das ganze Jahr über. Was hält man in Brüssel von der Schweizer Unfähigkeit, diese Krise zu lösen?

J. R.: Es gibt Stimmen, die sagen, die beiden Schweizer wären besser geschützt, wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre. Ich weiss es nicht.

Was ich hingegen feststelle, ist, dass sich die Schweiz dank ihrer Zugehörigkeit zum Schengen-Raum besser wehren kann. So wandte sie sich gegen den Besuch libyscher Persönlichkeiten in die Schweiz und stellte keine Visa mehr aus.

Dies hatte automatisch ein Einreise-Verbot in alle anderen Schengen-Länder zur Folge. Ein europäisches Instrumentarium also, das den Interessen Berns sehr entgegen gekommen ist – bedenkt man, wie sehr es während der Schengen-Abstimmungen umstritten war.

swissinfo.ch: Das Stimmvolk hat Ende November entschieden, ein Verbot neuer Minarette in die Verfassung aufzunehmen. Wie wurde dieses Abstimmungsresultat in Brüssel beurteilt?

J. R. : Zwar sind Werturteile zu Schweizer Abstimmungen nicht zulässig. Zu Beginn hat das Resultat unangenehm überrascht. Nachher jedoch hat sich jedermann gesagt – ohne dass es öffentlich ausgesprochen worden wäre – dass ein ähnliches Referendum in Belgien, Frankreich oder anderswo wohl zu gleichen Resultaten geführt hätte.

Andererseits ist man sich hier über die Bedeutung einer solchen Initiative überhaupt nicht im Klaren. Das Instrument einer Verfassungs-Initative ist in den EU-Ländern kaum bekannt. Es scheint aber gefährlich zu sein. Man sollte nicht einfach über Alles abstimmen können.

Diese Debatte dürfte sicher fortgesetzt werden, falls die Schweiz Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen sollte. In Brüssel wird man sich dann fragen, ob eine Direktdemokratie nicht den gemeinsamen europäischen Markt gefährdet. Was wiederum, das ist wohl auch klar, die Schweizer noch mehr gegen die EU aufbringen dürfte.

swissinfo.ch: Wie schätzen Sie persönlich diese Ereignisse ein? Hatten sie einen Einfluss auf Ihre Situation als Auslandschweizer?

J. R. : Meine persönliche Situation wurde dadurch überhaupt nicht berührt, wohl aber die Sicht des Auslandes auf die Schweiz.

Sich von Libyen auf die Palme bringen zu lassen, sich zur Aufweichung des Bankgeheimnisses gedrängt zu sehen und die internationale Kunstszene im Nacken zu haben, hat der Schweiz verstärkt das Image eines Landes beschert, das sich auf der internationalen Szene mehr und mehr isoliert.

Es ist nicht mehr wie früher – und das stört. Oft werde ich in Brüssel gefragt, fast schon etwas ängstlich, wie ich denn die Zukunft meiner Heimat sehe. Ich muss zugeben, die Frage ist nicht schlecht…

Tanguy Verhoosel, Brüsse, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

Brüssel ist voller Widersprüche: Die Hauptstadt des kleinen Landes Belgien, zählt kaum mehr als eine Million Einwohner.

Doch als Hauptstadt der Union beherbergt sie ein unglaubliches Gemisch an Nationalitäten und entfaltet viel Aktivitäten in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.

Die Lebensqualität Brüssels ist laut Russotto sehr hoch – die Stadt zählt zu den grünsten Europas.

Leider seien die Strassen oft etwas schmutzig und die Belgier recht schlecht organisiert. Gut, dass ein Schweizer «nie die Orientierung verliert»!

1940 in Montreux geboren, lebt Jean Russotto seit 1972 in Brüssel.

Er leitet dort die belgische Tochter von Steptoe & Johnson, eines der vier wichtigsten Anwaltsbüros in Washington.

Er ist Doktor der Rechte der Uni Lausanne, diplomiert am Europa-College in Brügge und an der Harvard Law School.

Spezialisiert ist Russotto auf Finanz-Dienstleistungen, Wettbewerbs- und Umweltrecht.

In dieser Funktion vertritt er in der EU-Hauptstadt auch gewisse Interessen der Schweiz, vor allem jene der Banken.

Verheiratet ist er mit einer Amerikanerin, er hat zwei Kinder.

Bevor er auswanderte, arbeitete er im Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Waadt und bei Nestlé in Vevey.

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