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«Wir sind dauernd umgeben von Menschen und doch immer alleine»

Ein Mann sitzt vor einem Plakat und erklärt etwas.
Die meisten arbeiten 10 bis 15 Jahren als Mediator und machen danach etwas anderes. Julian Hottinger ist seit bald 30 Jahren dabei. ZVG

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, reist ein Schweizer im Auftrag des Friedens um die halbe Welt. Er lebt aus dem Koffer und verhandelt tagelang – wenn nötig auch mit dem Teufel. Julian Hottinger ist Experte für Friedensförderung im Aussendepartement und gibt swissinfo.ch Einblicke in einen einsamen Beruf.

swissinfo.ch: Es heisst, das Leben eines Mediators gleiche dem eines Vertreters: Im Auftrag von jemandem von Ort zu Ort reisen, immer im Ungewissen, wann man nach Hause kommt.

Julian Hottinger arbeitet seit 2003 im Auftrag des Schweizer Aussendepartements (EDA) als Mediations- und Faziliations-Experte. Im Einsatz war er unter anderem im Sudan, in Uganda, Burundi, Liberia und Indonesien.

Er führt Verhandlungen in Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch. Im Moment ist er in sechs verschiedenen Konflikten involviert. Angaben zu den betroffenen Ländern und involvierten Parteien darf Hottinger keine machen.

Nach seinem Studium in der Schweiz hatte er sich am Kanadischen Internationalen Institut für angewandte Verhandlungen (CIIAN) auf internationale Konfliktmediation spezialisiert und war danach unter anderem für Kanada als Mediator im Einsatz.

Julian Hottinger: Während meiner Ausbildung zum Mediator verglich man uns immer wieder mit den Missionaren, die im Süden der USA von Dorf zu Dorf zogen, um die Bibel zu verteilen. Dieses Bild hat durchaus etwas: Ich bin enorm viel unterwegs, das gehört zu meinem Beruf. Pro Jahr schlafe ich bloss zwischen 65 und 70 Nächten in meinem eigenen Bett. Hart ist es, wenn ein Einsatz länger dauert als gedacht, oder wenn ich direkt zu einer weiteren Mission einberufen werde. Dann verzögert sich meine Heimreise unerwartet.

swissinfo.ch: Das tönt anstrengend.

J.H.: Nein, es geht. Während meiner Ausbildung wurde ich auf dieses Leben vorbereitet. Wir wurden Tag und Nacht gedrillt. Mediatoren haben Gewohnheiten, die sie bewusst beibehalten, egal wo sie sind. Für sie sind diese kleinen Automatismen ein Ersatz für das zu Hause.

swissinfo.ch: Welche Komfort-Zonen haben Sie sich eingerichtet für unterwegs?

J.H.: Ich lese, wann immer ich Zeit habe. Am liebsten Geschichten, die nichts mit meiner Arbeit zu tun haben. Ausserdem mache ich kleine Spaziergänge, wenn möglich mehrmals pro Tag und ich versuche am Abend immer etwas zu essen und genügend zu schlafen.

swissinfo.ch: Ein Verhandlungszyklus dauert normalerweise zwischen zwei und drei Wochen. Danach schicken Sie die Konfliktparteien nach Hause. Weshalb?

J.H.: Es gilt zu verhindern, dass sich zwei Realitäten etablieren: Eine am Verhandlungstisch und eine zu Hause. Deshalb müssen die Parteien mit ihren Leuten reden, die Basis konsultieren und sie über den Stand der Verhandlungen informieren. Beim nächsten Treffen rapportieren die Parteien, um mögliche Probleme zu identifizieren. Ohne Rückhalt zu Hause ist alles für die Katz.

«Es genügt heute nicht mehr, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Die Konfliktparteien wollen wissen, was ihnen die Zukunft bringt.»

swissinfo.ch: Solch zyklische Treffen können sich über Jahre hinwegziehen.

J.H.: Ja. Es ist unmöglich im Voraus zu sagen, wie lange so ein Prozess dauern wird. Der Ablauf der Verhandlungen gleicht der Form eines Trichters. Schrittweise arbeiten wir uns nach unten zur wichtigsten Frage durch. Verhandeln wir zum Beispiel über die Etablierung eines Rechtssystems, beginnen wir mit allgemeinen, theoretischen Fragen über die verschiedenen Modelle. Ziel dieser ersten Phase ist es, dass alle Parteien am Tisch über die gleichen Kenntnisse verfügen.

swissinfo.ch: Gut vorbereitete Parteien langweilt das doch.

J.H.: Es ist wichtig, dass alle Parteien an dieser Diskussion teilnehmen. Denn es geht auch darum eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Idealerweise beginnen die Konfliktparteien in dieser Phase der Verhandlungen zudem bereits damit, sich auszutauschen. Das ist meistens der Fall, denn die Fragen wird in dieser Phase ja erst auf einem theoretischen Niveau abgehandelt und es geht noch nicht um den konkreten Fall.

swissinfo.ch: Auch in der zweiten Phase reden die Parteien noch nicht über ihre Situation.

J.H.: Nur indirekt. Wir diskutieren nun Probleme, Bedenken, Einwände und Anregungen, welche die Parteien während der Konsultation ihrer Basis zu Hause gesammelt haben. Erst in einer dritten Phase geht es ans Eingemachte. Es geht nun um den konkreten Fall, die Parteien verkeilen ihre Hörner ineinander und ringen um Lösungen, beispielsweise um sich möglichst auf ein Rechtssystem zu einigen.

swissinfo.ch: Dürfen Sie als Mediator auch Lösungsvorschläge machen?

J.H.: Meine Aufgabe als Mediator besteht darin, die Parteien so stark anzunähern, dass sie selber mögliche Lösungen sehen. Es sind aber immer die Konfliktparteien, die den letzten Schritt aufeinander zugehen müssen. Ich kann meine Bedenken äussern, wenn ich befürchte, dass die gefundene Lösung am Ziel vorbeischiesst, also beispielsweise grundlegende Ursachen des Konflikts nicht beachtet. Oder wenn ich, um beim Beispiel des Rechtssystems zu bleiben, sehe, dass es Probleme mit der Gewaltenteilung geben könnte. Das letzte Wort haben aber immer die Parteien.

Aufnahme eines schwarzen Mannes in Militärkleidung.
Ein Mediator verhandelt auch mit mutmasslichen Kriegsverbrechern: Hier im Bild Joseph Kony, Führer der ugandischen «Lord’s Resistance Army» (LRA). Hottinger traf ihn zu Verhandlungen über eine Reintegration der LRA im Norden des Landes. Keystone

swissinfo.ch: Bleiben wir beim Beispiel des Rechtssystems. Um die Parteien in ihrem Prozess optimal zu begleiten, müssen Sie über ein enormes Wissen verfügen.

J.H.: Heute sind die meisten Mediatoren Experten für bestimmte Fragen. Die Zusammensetzung der Gruppe wechselt im Verlauf des Prozesses. 17 bis 25 Experten beraten und begleiten die Konfliktparteien zu verschiedenen Zeitpunkten bei ihren Verhandlungen. Ich persönlich bin Experte für Waffenstillstands-Abkommen. Bei Justiz- oder Wirtschaftsfragen bin ich nicht nützlich.

swissinfo.ch: Sind Friedensverhandlungen heute komplizierter als früher?

J.H.: Es genügt heute nicht mehr, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Vielmehr wollen die Konfliktparteien wissen, was ihnen die Zukunft bringen und welche Rolle ihnen zukommen wird. Es werden immer öfters ganze Gesellschaftsvisionen ausgehandelt. Das alles braucht unglaublich viel Expertise und Zeit.

«In den ersten drei Jahren im Feld habe ich sämtliche Fehler gemacht, die man machen kann. Ich war überzeugt, der schlechteste Mediator überhaupt zu sein.»

swissinfo.ch: Wie bereiten Sie sich auf einen Einsatz vor?

J.H.: Im Normalfall erfahre ich zwei oder drei Wochen im Voraus, dass es möglicherweise zu einer Mission kommen wird. Ich treffe Experten, lese und stehe in Kontakt mit Vertretern der Konfliktparteien. Klar erläutert mir jeder seine Sicht der Dinge. Doch genau darauf zähle ich und das kommuniziere ich auch so. So verschaffe ich mir einen ersten Eindruck des konkreten Falls.

swissinfo.ch: Sie sagen, Mediation bedeute auch, mit dem Teufel zu reden. Für Kontroversen sorgte insbesondere ihre Treffen mit dem mutmasslichen ugandischen Kriegsverbrecher Joseph Kony. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

J.H.: Natürlich. Ich glaube, dass viele damals das Gefühl hatten, die Verhandlungen brächten Kony einen Vorteil. Aber lassen Sie mich klarstellen: Es gibt Verbrechen, für die man bestraft wird, wenn man sie begeht. Das haben wir LRA-Chef Kony und seinen vier Helfershelfern, die mit internationalem Haftbefehl gesucht wurden, von Anfang an klargemacht. Wir sagten Kony, dass wir nichts für ihn tun können. Bei den 18-monatigen Verhandlungen ging es um die Reintegration der «Widerstandsarmee des Herrn» (LRA) im Norden Ugandas.

swissinfo.ch: Rauben Ihnen solche Treffen manchmal den Schlaf?

J.H.: Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wenn Sie diese Personen treffen, sind sie nicht anders als Sie und ich. Sie haben schreckliche Dinge getan und für die müssen sie büssen. Aber es ist nicht meine Aufgabe, eine Person am Verhandlungstisch unter die Lupe zu nehmen und herauszufinden, was sie gemacht hat. Ich urteile auch nicht über sie. Das ist die Aufgabe von jemand anderem. Meine Arbeit besteht darin, ein Land, eine Gesellschaft dabei zu unterstützen, einen neuen Weg einzuschlagen, damit Probleme anders als mit Gewalt gelöst werden. Schwierig ist es für mich, bevor ein Verhandlungsprozess beginnt. Da schlafe ich schlecht oder gar nicht. Ich bin nervös, denke an all die Fehler, die ich in der Vergangenheit gemacht habe und male mir Dinge aus, die passieren könnten.

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swissinfo.ch: Sind Ihnen denn schon viele Fehler unterlaufen?

J.H.: In den ersten drei Jahren im Feld habe ich wohl sämtliche Fehler gemacht, die man machen kann. Ich war überzeugt, der schlechteste Mediator überhaupt zu sein. Ein Desaster. Ich begann sogar damit, Stellenangebote zu konsultieren, weil ich dachte, dass ich bald entlassen werde. Aber ich habe auch enorm viel gelernt. Ein Senior Mediator begleitete mich und übertrug mir schrittweise mehr Verantwortung. Und nun bin ich schon fast 30 Jahre in diesem Beruf und begleite selber angehende Mediatoren.

swissinfo.ch: Sie sind diesbezüglich eine Ausnahme. Viele Ihrer Kollegen arbeiten während 10 bis 15 Jahren als Mediator Externer Linkund machen danach etwas anderes.

J.H.: Ich habe jung damit angefangen und nie etwas anderes gemacht. Ich weiss gar nicht was es heisst, einer anderen Arbeit nachzugehen. Wir Mediatoren leiden an einer Art «Krankheit», die ich umschreiben würde als «von Menschen umgeben und doch immer einsam». Wir müssen immer auf der Hut sein, wem wir was sagen. Auch zu Hause. Wir müssen also gewissermassen zu allen Menschen, die uns umgeben, immer eine gewisse Distanz halten.

swissinfo.ch: Mit Blick auf das Familienleben stelle ich mir das extrem schwierig vor.

J.H.: Das ist so. Denn sobald man sich zu Hause auch so distanziert verhält, kann das zu Schwierigkeiten führen. Irgendwann werden sich die Angehörigen fragen, mit wem sie es da überhaupt zu tun haben, wer dieser Mensch ist, von dem sie das Gefühl haben, dass er gedanklich immer anderswo ist.

swissinfo.ch: Viele Konflikte flammen wieder auf, die Gewalt ist nach ein paar Jahren zurück. Ist das nicht frustrierend?

J.H.: Es stimmt mich traurig. Insbesondere wenn die Konfliktparteien bereits an einem Verhandlungsprozess teilgenommen haben und ich weiss, dass sie es auch anders können.

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