«Frankreich ist keine Republik, es ist eine Wahlmonarchie»
Der schweizerisch-französische Doppelbürger Jacques-Nicolas de Weck ist ein profunder Kenner der französischen Geschichte und Politik. Seine langjährige politische Karriere in Saint-Maur-des-Fossés (bei Paris) ermöglicht ihm vor dem Hintergrund der anstehenden Präsidentschaftswahl einen kritischen Blick auf die Entscheide, die das heutige Frankreich geprägt haben.
«Ich werde für Präsident Macron stimmen», sagt Jacques-Nicolas de Weck ohne zu zögern. Der 74-jährige Franko-Schweizer, der aus Freiburg stammt, hat eine «zentristische Gesinnung». In Frankreich wählt er das «MoDem» (Mouvement démocrate / Mitte), deren Mitglied er ist, in der Schweiz «Die Mitte» (ehemals Christlichdemokratische Volkspartei, CVP).
Wie andere aufmerksame Beobachtende des politischen Lebens in Frankreich stellt de Weck fest, dass Emmanuel Macron die traditionellen politischen Trennlinien verwischt hat: «Seine Bewegung hat heute einen eindeutig rechten Flügel mit den Mitgliedern von Agir und Horizons, einen zentristischen Flügel mit der ‹MoDem› und LREM (La République en marche) und einen fast sozialdemokratischen Flügel mit Territoires de progrès und der Umweltbewegung En commun.»
Eine neue Realität, die sich über seine politische Familie hinaus auswirkt. «Das neue Umfrageunternehmen ‹Cluster17› hat gezeigt, dass die französische Meinung in 16 verschiedene politische Strömungen aufgespalten ist», sagt de Weck.
«Noch nie war das Land politisch so zersplittert. Das ist die Folge der Wahlen von 2017, bei denen Präsident Macron sowohl die Linke als auch die Rechte in verschiedene Unterströmungen aufgesprengt hat.»
Die französischen Präsidentschaftswahlen aus der Sicht der Auslandschweizer:innen in Frankreich
Über 200’000 Schweizer:innen sind offiziell bei den konsularischen Vertretungen als in Frankreich wohnhaft registriert. Damit lebt dort die grösste Auslandschweizergemeinschaft auf der Welt.
Vor den nächsten Präsidentschaftswahlen, die am 10. April (erster Wahlgang) und am 24. April (zweiter Wahlgang) stattfinden, publiziert SWI swissinfo.ch die Aussagen von Schweizerinnen und Schweizern in Frankreich, die in den wichtigsten politischen Parteien der Schweiz aktiv sind oder waren, um eine helvetische Sicht auf die französische Politik zu erhalten.
Die vertretenen Schweizer Parteien sind: Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP/links), Schweizerische Volkspartei (SVP/rechtskonservativ), Die Mitte (ehemals CVP, Mitte), Grüne Partei der Schweiz (links).
Politiker in Frankreich
De Weck wurde als Sohn von Freiburger Eltern in der Schweiz geboren und verlor seinen Vater in jungen Jahren. Seine Mutter heiratete einen Franzosen, der aus der alteingesessenen Anjou-Familie Veillon de la Garoullaye (Region Angers, Westfrankreich) stammte.
Er wuchs dann in Frankreich auf, kehrte jedoch zum Studieren in die Schweiz zurück. Mit etwa 25 Jahren liess er sich in Frankreich einbürgern und wurde somit zum Doppelbürger.
Anschliessend absolvierte er seine gesamte berufliche Laufbahn, die hauptsächlich mit der Politik verbunden war, im Bereich des sozialen Wohnungsbaus und der Wohnungswirtschaft in Frankreich. Er war zudem 31 Jahre lang Stadtparlamentarier von Saint-Maur-des-Fossés, «etwas mehr als 20 Jahre in der Mehrheit und dann 10 Jahre in der Opposition».
De Weck stammt aus einer alteingesessenen Familie im Saanebezirk (Kanton Freiburg) und pflegt enge Beziehungen zur Schweiz, die er regelmässig besucht, vor allem das Greyerzerland und die Region Luzern.
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Positive Fünfjahres-Bilanz
Trotz der Zersplitterung der politischen Landschaft in Frankreich ist de Weck der Ansicht, dass die Bilanz des Präsidenten insgesamt positiv sei: «Zu Beginn seiner fünfjährigen Amtszeit hat Präsident Macron eine Vielzahl von Wirtschaftsreformen durchgeführt, die den Unternehmen mehr Flexibilität verschafft haben», speziell im Bereich der Besteuerung.
Der Schweiz-Franzose erwähnt auch die Reform der landwirtschaftlichen Renten, welche «die Leute nicht so sehr wahrgenommen haben, weil die Gesundheitskrise alles überrollt hat».
Diese Reform verspricht den Landwirtinnen und Landwirten eine Rente von 1000 Euro (1038 Franken) netto pro Monat ab 2022 und mindestens 85% des Mindestlohns im Jahr 2025, was heute etwa 1080 Euro entspricht. Zuvor betrug sie im Durchschnitt nur 730 Euro pro Monat.
De Weck gibt sich aber auch grossherzig und räumt ein, dass viele der heutigen Probleme «das Ergebnis der letzten zwanzig Jahre» sind.
Die Gelbwesten
Als langjähriger Beobachter der französischen Politik erkennt er jedoch auch die Schwächen des amtierenden Präsidenten, den er als «misstrauisch» bezeichnet, namentlich gegenüber den Medien.
Seiner Meinung nach misstraut dieser «allem und befürchtet, dass seine Mitarbeitenden zu oft mit den Medien sprechen und seine Botschaft ein wenig verraten». Aus diesem Grund sei «die Regierung sehr technokratisch geworden» und habe schliesslich den Bezug zur Realität vor Ort verloren, so de Weck.
Macron «verfügt nicht wirklich über die Netzwerke auf der Ebene der Interessengruppen, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik». Interessengruppen sind soziale Gruppen wie Gewerkschaften, Verbände, politische Parteien oder auch bestimmte Institutionen. Sie dienen als Puffer und Vermittler zwischen dem französischen Staat und der Zivilgesellschaft.
Für de Weck führte diese Unkenntnis unter anderem zur Gelbwesten-Krise. Ab November 2018 führten Hunderttausende Menschen Blockadeaktionen durch und gingen auf die Strasse. Zunächst aus Protest gegen die Erhöhung der Benzinsteuern, aber auch gegen die sinkende Kaufkraft und um die Kluft zwischen der Regierung und den Regionen anzuprangern.
«Es gab eine Spaltung» zwischen dem ländlichen und dem periurbanen Raum (Einflusszone einer Stadt ausserhalb der Vororte) auf der einen Seite und den grossen Ballungsräumen auf der anderen Seite. Aus den periurbanen Gebieten sei die Infrastruktur, besonders Post, Medizin und Verkehr, «in die Metropolen zurückverlagert worden».
De Weck bedauert diesen Weg, der von Nicolas Sarkozy mit dem Justizapparat begonnen, unter François Hollande in der Stadtplanung fortgesetzt und von Macron zu Beginn seiner Amtszeit fortgesetzt wurde. Die Folge: «Ein Gegensatz zwischen zwei Systemen», der zur Revolte geführt habe.
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«In Frankreich sind die Menschen nicht bereit, Opfer für das Gemeinwohl zu erbringen»
Die extreme Rechte
Und genau hier findet die extreme Rechte ihren Nährboden. «Sie befindet sich nicht in den Städten», sagt de Weck, «sie befindet sich auf dem Land». Seiner Meinung nach sind die Menschen, die in Frankreich für die extreme Rechte stimmen, «nicht unbedingt in finanzieller Not. Es sind Menschen, die sich intellektuell deklassiert fühlen», obwohl sie ein gutes Bildungsniveau haben.
Er ist der Meinung, dass viele Missbräuche begangen wurden, weil «Eingewanderte ab ihrer Ankunft in Frankreich von vielen Dingen profitieren können, die in der Schweiz unvorstellbar wären», zum Beispiel in Bezug auf Wohnraum oder Gesundheitsversorgung. Dies erklärt seiner Meinung nach den «sehr schnellen Aufstieg von Éric Zemmour in den Umfragen, der von der Schweiz aus gesehen irrational erscheinen mag».
Wenn man alle Anteile der extremen Rechten in Frankreich hinzunimmt, also jene Personen, die bereit sind, für Marine Le Pen (RN, Rassemblement National), Zemmour (Reconquête) oder Nicolas Dupont-Aignan (Debout la France) zu stimmen, «erreicht man immerhin rund 35% der Wählerschaft», sagt de Weck.
Er kann sich nicht vorstellen, dass Zemmour genügend Stimmen sammeln kann, um die erste Runde der Präsidentschaftswahlen zu überstehen. «Wenn eine Person eine Chance hat, dann ist es Madame Le Pen.»
Er hält sie für überzeugender als Valérie Pécresse (LR / Les Républicains, rechts) und eher in der Lage, im zweiten Wahlgang auch einen Teil der linksradikalen Wählerschaft auf sich zu vereinen. In der Tat würden die Unterschichten in den Industriegebieten, die traditionell links wählen, ihre Stimmen im zweiten Wahlgang wahrscheinlich der extremen Rechten anbieten.
Der schweizerisch-französische Doppelbürger hat jedoch keinen Zweifel daran, dass Präsident Emmanuel Macron wiedergewählt wird.
Die Meinung des Volks
Der Sieger oder die Siegerin wird mit den Spuren zu kämpfen haben, welche die sozialen Krisen hinterlassen haben, die Frankreich in den letzten fünf Jahren durchgeschüttelt haben. Die Menschen auf dem Land fühlen sich vernachlässigt und haben zunehmend das Gefühl, nicht in derselben Realität zu leben wie die herrschende politische Klasse.
Wenn de Weck den französischen Abgeordneten vom Schweizer System der halbdirekten Demokratie erzählt, «erkennen diese an, dass eine Organisation, welche die Demokratie am Leben erhält und es den Menschen ermöglicht, ihr Schicksal mitzubestimmen, ein Modell ist, dem man folgen sollte». Die Politikerinnen und Politiker hätten jedoch Angst vor Betrug und vor der «[französischen] Gewohnheit, bei allem zu schmarotzen».
Schuld daran sei, dass «die Organisationsstruktur und die Regierungsführung des Landes immer noch so sind, wie sie ursprünglich von den königlichen Legisten entworfen und dann durch den Code Napoléon aufrechterhalten und gefestigt wurden», sagt der Geschichtskenner. Dann lässt er die Guillotine sausen: «Frankreich ist keine Republik, es ist eine Wahlmonarchie.»
Kein Wunder also, dass es dem System schwerfällt, sich auf mehr Partizipation der Bürgerinnen und Bürger einzustellen. De Weck sieht darin aber paradoxerweise auch einen Vorteil: «Das führt zu Kreativität. In Frankreich gibt es im Gegensatz zur Schweiz keine Selbstkontrolle. Und das ermöglicht geradezu einen Freiheitsdrang, da alle Ideen möglich sind.»
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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