«Das Zauberwort für eine starke aussenpolitische Zukunft heisst Kohärenz»
Aussenminister Ignazio Cassis werde die Schweizer Aussenpolitik neu ausrichten, lautet der Tenor in den Medien. Ob dem so ist, weiss Chefdiplomatin Pascale Baeriswyl. Sie hat den Auftrag, die aussenpolitische Strategie 2020-2023 zu erarbeiten. SWI swissinfo.ch hat sie in ihrem Büro in Bern getroffen.
Bereits seit anfangs Jahr steht Staatssekretärin Pascale Baeriswyl in engem Kontakt mit den anderen Departementen, um über die nächste aussenpolitische Strategie zu diskutieren. Erstmals nämlich definiert das AussendepartementExterner Link (EDA) die aussenpolitischen Schwerpunkte der Schweiz für die kommende Legislatur nicht im Alleingang.
Dass Aussenminister Cassis aussenpolitisch neue Akzente setzen möchte, hat er seit seinem Amtsantritt vor gut zwei Jahren immer wieder betont und sich damit heftiger Kritik ausgesetzt. Im Gespräch mit swissinfo.ch erläutert Baeriswyl, was das für die aussenpolitische Strategie bedeutet.
swissinfo.ch: Können Sie die aussenpolitische Strategie für die kommende Legislatur noch fertigstellen oder reisen Sie vorher nach New York ab?
Pascale Baeriswyl: Ich werde vor Ende Jahr einen Entwurf vorlegen. Wann und in welcher Form die aussenpolitische Strategie 2020-2023 verabschiedet wird, beschliesst hingegen alleine der Bundesrat. An die Schweizer Mission bei der UNO in New York werde ich voraussichtlich im Mai 2020 versetzt.
swissinfo.ch: Eine Ihrer Inspirationsquellen ist der Bericht «Die Schweiz in der Welt 2018»Externer Link (AVIS28). Darin analysiert eine von Aussenminister Ignazio Cassis eingesetzte Arbeitsgruppe künftige Herausforderungen und macht zahlreiche Vorschläge zur Anpassung der aussenpolitischen Instrumente. Was bedeutet das mit Blick auf die neue Strategie?
Pascale Baeriswyl begann ihre diplomatische Laufbahn beim EDA vor knapp 20 Jahren. 2016 wurde sie zur Staatssekretärin ernannt. Diesen Sommer gab die Juristin und Historikerin bekannt, dass sie ab Frühling 2020 die ständige Mission der Schweiz bei der UNO in New York leiten werde. Medien sehen den Grund für diesen Wechsel im schwierigen Verhältnis zwischen Baeriswyl und ihrem Vorgesetzten: Ihr Abgang sei ein weiteres Symbol für die Neuausrichtung der Aussenpolitik unter Aussenminister Cassis.
P.B.: Das Zauberwort heisst Kohärenz. Sie wird in den kommenden Jahren anspruchsvoller. Die zwei vorangehenden Strategien waren – obwohl vom Gesamtbundesrat verabschiedet – primär von EDA-Themen geprägt. Neu möchten wir die anderen Departemente stärker einbeziehen.
Die Strategie ist das Resultat eines Verhandlungsprozesses: Die verschiedenen Departemente haben zusammen definiert, wie sich die Schweiz für die nächsten vier Jahre gegen aussen aufstellen möchte.
Inhaltlich wird die Strategie mehr thematisch auf der Basis der Bundesverfassung ausgerichtet sein. Da sich das internationale Umfeld so rasch verändert, ist es nämlich schwieriger geworden, sich rein geografisch zu orientieren. Die Schweiz hat beispielsweise keinen Einfluss darauf, wie die Grossmächte in zwei Jahren aussehen werden.
swissinfo.ch: Aufgrund der volatilen Weltlage werden für die Interessenswahrung der Schweiz die Beziehungen zu den Grossmächten aber wichtiger. Wie will die Schweiz beispielsweise gegenüber China kohärenter auftreten?
Die Aussenpolitische Strategie 2020-2023 ist erst die dritte in der Geschichte der Schweiz. Lange galt die Überzeugung, die beste Aussenpolitik sei es, keine zu haben. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und im Zuge der Globalisierung fand ein Umdenken statt. 2011 schliesslich entschied der Bundesrat, sich alle vier Jahre eine solche Strategie zu geben, in der er die aussenpolitischen Schwerpunkte des Landes definiert.
P.B.: Die neue aussenpolitische Strategie bildet den Auftakt für die Erneuerung gewisser Strategien im Umgang mit Grossmächten. Dies gilt auch für China. Für herausfordernde Länder möchten wir interdepartementale Strukturen schaffen, wie sie für Themen – wie zum Beispiel die Migrationsaussenpolitik – bereits gut funktionieren.
Die wichtigsten Strategien wird der Bundesrat verabschieden, denn einzelne Departemente decken unterschiedliche Interessen ab. Falls diese in Gegensatz zueinander treten, kann in Koordinationsgremien eine Lösung verhandelt werden.
swissinfo.ch: Mit dem «Whole of Switzerland»-Ansatz plädiert AVIS28 grundsätzlich für mehr Kohärenz in der Aussenpolitik, indem der Haltung der nationalen Akteure Rechnung getragen werden soll. In anderen Ländern Europas fragt das Aussenministerium auch nicht alle nach ihrer Meinung.
P.B.: Wir befinden uns in einer Zeit, in welcher der Umgangston rauer und die Weltordnung instabiler geworden sind. Ein möglichst geeintes aussenpolitisches Auftreten ist deshalb wichtig. Und hierfür brauchen wir eine Rückkoppelung der Aussenpolitik in die Innenpolitik. Mit Blick auf das Europa-Dossier wissen wir das schon lange. Dies gilt heutzutage vermehrt auch für andere Themen und Regionen.
«Unsere Botschaften waren schon immer eine Schaltstelle für Schweizer Wirtschaftsinteressen.»
swissinfo.ch: Ist eine solche Kohärenz angesichts unseres politischen Systems der Vielstimmigkeit überhaupt realistisch?
P.B.: Die Vielschichtigkeit und Diversität unseres Landes sind nicht nur innenpolitisch eine Chance, sondern auch auf dem internationalen Parkett. Hierfür bewundern uns viele Länder. Der Aufwand lohnt sich meines Erachtens also.
swissinfo.ch: Viel zu reden gibt, dass die Schweizer Aussenpolitik sich künftig stärker an den wirtschaftlichen Interessen des Landes orientieren soll.
P.B.: Unsere Botschaften waren schon immer eine Schaltstelle für Schweizer Wirtschaftsinteressen. Sie sollen Schweizer Unternehmen, Universitäten, Kulturschaffenden oder zivilgesellschaftlichen Akteuren gleichermassen Türen öffnen. Swiss Business HubsExterner Link sind seit vielen Jahren Teil unserer Vertretungen. Auch mit dem Wissenschaftsnetz swissnexExterner Link arbeiten wir eng zusammen. Ein starker «One Switzerland» Auftritt – wie beispielsweise in San Francisco oder Mailand – ist gegenüber anderen Ländern innovativ und attraktiv.
swissinfo.ch: Also entspricht es der gängigen Praxis und wird nun einfach beim Namen genannt?
P.B.: Der Anspruch an die aussenpolitische Strategie 2020-2023 ist, dass sie vermehrt departementsübergreifende Themen berücksichtigt. Deshalb werden auch die Finanz- und Wirtschaftsaussenpolitik im Dokument stärker abgebildet. Dies gilt allerdings zum Beispiel auch für die Gesundheitsaussenpolitik oder Nachhaltigkeit.
swissinfo.ch: Was ist mit dem Gedanken der Solidarität in der Aussenpolitik?
Solidarität gehört zu unserer Schweizer DNA und steht in der Verfassung. In dieser gibt es keine Hierarchie zwischen verschiedenen aussenpolitischen Zielen wie zum Beispiel der Menschenrechtsaussenpolitik und der Friedensförderung auf der einen und dem Streben nach Wohlstand und Sicherheit auf der anderen Seite. Sie sind alle gleichwertig.
swissinfo.ch: Dann wird diese Diskussion überbewertet?
P.B.: Ja, ich plädiere für mehr Gelassenheit. Wichtig ist, dass wir die Schweizer Aussenpolitik in all ihren Facetten darstellen: Die Schweiz hat eine starke humanitäre und eine starke wirtschaftliche Tradition.
«Interessenkonflikte gibt es. Und angesichts der Weltlage werden sie zunehmen.»
swissinfo.ch: Interessenskonflikte wird es aber trotz dieser Bemühungen zu mehr Kohärenz auch in Zukunft geben.
P.B.: Interessenkonflikte gibt es. Ich gehe sogar davon aus, dass sie angesichts der Weltlage zunehmen werden. Denken Sie etwa an die Möglichkeit einer weiteren Eskalation des Handelsstreits zwischen den USA und China. Dies betrifft uns ganz direkt, und die Schweiz müsste von Fall zu Fall politisch entscheiden, welches Interesse in concreto höher zu gewichten ist. Dafür braucht es politische Leadership.
Grundsätzlich kann man aber sagen, dass unsere wirtschaftlichen Interessen und unser Engagement zur Stärkung der Menschenrechte im aussenpolitischen Alltag meistens vereinbar sind und sich sogar gegenseitig bedingen. Der Fall, wo sich die Menschenrechtslage in einem Land erheblich verschlechtert und die Wirtschaftslage stabil bleibt oder sich gar verbessert, bleibt die Ausnahme.
swissinfo.ch: China zum Beispiel?
P.B.: Das kann man so nicht sagen. Mit China stehen wir vor der Herausforderung, langfristig eine nachhaltige wirtschaftliche Beziehung zu etablieren, die internationale Standards berücksichtigt. Und sobald es um Nachhaltigkeit geht, geht es auch um Menschenrechte. Kurzfristige Profite sind nicht im Interesse der Schweiz.
«Wir werden unserer bilateralen Beziehung mit der EU während der nächsten Legislatur konsolidieren. Wir haben gar keine andere Wahl.»
swissinfo.ch: Kommen wir noch auf das Verhältnis der Schweiz zur EU zu sprechen – einer Schlüsselfrage unserer Aussenpolitik. Kernziel der vergangenen Legislatur war die Sicherstellung eines «geregelten, partnerschaftlichen und ausbaufähigen Verhältnisses». Das ist ziemlich missglückt. Wie lautet das neue Ziel?
P.B.: Gleich. Denn alle unsere Nachbarstaaten sind in der EU. Sie ist mit Abstand unsere wichtigste Wirtschaftspartnerin und mit den Mitgliedstaaten verbinden uns gemeinsame Wertevorstellungen. Auch sicherheitspolitisch sind wir eng verbunden, denn wenn etwas in der Peripherie geschieht, hat die Reaktion der EU auch Auswirkungen auf uns. Deshalb stimmen wir uns im Umgang mit anderen Staaten eng mit Brüssel ab und handeln häufig synchron.
Die grösste Herausforderung liegt in unserer bilateralen Beziehung mit der EU. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir diese während der nächsten Legislatur konsolidieren werden. Wir haben gar keine andere Wahl.
In einer zunehmend multipolaren Welt muss die 🇨🇭 klar wissen, was sie will. Wir müssen uns Gedanken machen über die Welt von morgen und über unseren Platz und unsere Rolle in dieser Welt. #Avis28Externer Link inspiriert und soll uns eine Orientierungshilfe sein. ➡️ https://t.co/m9IBcipArWExterner Link pic.twitter.com/YA1zXyEXRgExterner Link
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) July 2, 2019Externer Link
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