«Die Schweiz verhält sich in solchen Fällen stets zurückhaltend»
Zahlreiche Staaten haben auf den Giftanschlag auf den russischen Ex-Agenten und dessen Tochter in Grossbritannien reagiert. Die Schweiz schliesst sich dieser abgestimmten Aktion vorläufig nicht an. Paul Widmer, Ex-Diplomat und Lehrbeauftragter für internationale Beziehungen an der Universität St.Gallen, erklärt weshalb.
«Die Solidarität, insbesondere innerhalb der EU, ist erstaunlich gross, selbst wenn nicht alle Länder mitgemacht haben.»
Die USA, Kanada, die Ukraine und zahlreiche EU-Länder haben mehr als 110 russische Diplomaten und Geheimdienstmitarbeiter ausgewiesen und sind damit dem Beispiel Grossbritanniens gefolgt. Auch die NATO und Australien beteiligen sich. Ist diese Aktion einmalig?
Paul Widmer: Was die Anzahl der Länder betrifft, ja. Die Solidarität, insbesondere innerhalb der EU, ist erstaunlich gross, selbst wenn nicht alle Länder mitgemacht haben. Meistens werden Ausweisungen bilateral behandelt. Die Anzahl der Ausgewiesenen hingegen ist nicht aussergewöhnlich. Es hat früher schon Aktionen geben, bei denen wesentlich mehr Diplomaten ausgewiesen wurden.
Wie lässt sich dieser Zusammenschluss erklären?
Erstens war dieser Anschlag schlicht abscheulich. Es ist international verboten, Giftwaffen zu verwenden. Es ist auch ein Verbrechen gegen den internationalen diplomatischen Rechtskodex. Die Diplomaten sind verpflichtet, die Gesetze des Landes einzuhalten, in dem sie stationiert sind.
Deshalb haben die Staaten nun ein Zeichen gesetzt?
Ich nehme an, es war der Ärger über Russlands Vorgehen, der sich seit einiger Zeit aufstaut. Das Vorgehen Moskaus wich in letzter Zeit ziemlich stark von den internationalen Normen ab, angefangen mit der Einverleibung der Krim, gefolgt vom verdeckten Einsatz in der Ostukraine und Russlands Sonderrolle im Nahen Osten. Die Regierungen fanden wohl, es sei wieder einmal nötig, ein starkes Zeichen zu setzen.
Unter den Ländern, die russische Diplomaten ausweisen, finden sich auch Nicht-EU-Staaten. Weshalb macht die Schweiz nicht mit?
Die Schweiz bekräftigt, dass sie den Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal im britischen Salisbury «in aller Schärfe» verurteilt. Doch «bevor die Schweiz allfällige Schlussfolgerungen zieht in Bezug auf die Hintergründe und Urheberschaft dieser Tat, müssen die Ergebnisse der laufenden Untersuchungen abgewartet werden», teilte das Aussendepartement (EDA) auf Anfrage von swissinfo.ch mit.
Die Schweiz hat traditionell eine sehr zurückhaltende Politik in dieser Hinsicht. Diese wird uns durch eine glaubwürdige Neutralitätspolitik auferlegt. Das Schweizer Aussendepartement sagte, dass es den Angriff aufs schärfste verurteile. Aber man will abwarten bis klar erwiesen ist, dass tatsächlich die russische Regierung dahintersteckt. Noch laufen die Untersuchungen. Sollte sich die Lage verschlimmern und es zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen kommen, könnte die Schweiz internationale Schutzmachtmandate übernehmen.
Ausweisungen von Diplomaten gehören zu diplomatischen Querelen. Wie schmerzhaft ist diese Aktion für Russland?
Nüchtern betrachtet muss man sagen, ist die Aktion nicht allzu schmerzhaft. Andere Massnahmen wie beispielsweise Sanktionen oder Einreisesperren für bestimmte Personen tun mehr weh. Die Vertretungen von Ländern wie Russland oder umgekehrt auch von den USA sind im Allgemeinen sehr gross. Russland hat in den USA einen Bestand von 500 Personen. Symbolisch hingegen ist der Zusammenschluss schwerwiegend. Er wird Auswirkungen auf das internationale Klima haben.
«Man wird ganz sicher versuchen, eine Eskalation zu verhindern. Hierfür gibt es die sogenannt diskrete Diplomatie.»
Russland hat bereits Gegenmassnahmen angekündigt. Wie geht dieses diplomatische Spiel weiter?
Vergleicht man die Situation mit ähnlichen Fällen in der Vergangenheit, kann man davon ausgehen, dass es wohl zu einem diplomatischen Pingpong kommen wird. Die Staaten werden versuchen, den Kompass neu auszurichten. Nach einer gewissen Zeit wird man wieder zu einem Modus Vivendi kommen und die Länder werden ihre Vertretungen still wieder mit Personal aufstocken.
Geht es für die Beteiligten nun darum, ihr Gesicht zu wahren und den Konflikt nicht eskalieren zu lassen?
Man wird ganz sicher versuchen, Grenzen zu setzen. Hierfür gibt es die sogenannt diskrete Diplomatie. Eine Eskalation würde den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern bedeuten und das möchte man gewiss vermeiden.
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