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Avantgarde-Theater im Dienst von Putin

Der russische Präsident Wladimir Putin schüttelt die Hand von Präsidentenberater und Staatsratssekretär Igor Lewitin
Der russische Präsident Wladimir Putin schüttelt die Hand von Präsidentenberater und Staatsratssekretär Igor Lewitin Keystone / Sergey Guneev

In einem brandaktuellen Roman "Der Magier des Kreml" verbindet der italienisch-schweizerische Politologe Giuliano da Empoli Realität und Fiktion. Als Kenner der russischen Geschichte, Literatur und des Theaters enthüllt der Schriftsteller die vielen Gesichter eines gewaltigen Schauspielers – Wladimir Putin. Ein Spiegelspiel, das einer grossen Inszenierung würdig ist.

Premierenabend in einem Avantgarde-Theater irgendwo in Moskau. Minister, Unternehmerinnen, Banker und viele andere sind gekommen, um ein sarkastisches Stück zu sehen, das sich über die Macht lustig macht. Der Autor?

Giuliano da Empoli Francesca Mantovani

Vadim Baranow , ein erfahrener und kühner Theatermann, der später zum politischen Berater von Wladimir Putin wurde. Er sagt zu ihm: «Ich weiss nicht viel über Politik, aber ich weiss, was eine Inszenierung ist.» Es ist Ende der 1990er-Jahre, und hier beginnt Giuliano da Empolis Roman «Le mage du Kremlin» (Der Magier des Kreml).

Vadim Baranow ist eine fiktive Figur, hinter der sich Wladislaw Surkow verbirgt, der tatsächlich existiert hat. Der Theater- und Fernsehmann und Absolvent der Moskauer Akademie für Schauspielkunst verherrlichte als Berater Putins das politische Schauspiel, bevor er 2013 zurücktrat und in Ungnade fiel.

Während Putin im Roman als «Zar» bezeichnet wird, ist Baranow (alias Surkow) «der Magier des Kreml» – ein Mann im Schatten, der seine Welt von den Hinterzimmern aus manipuliert. Eines Abends, lange nach seinem Rücktritt, trifft er den Erzähler und berichtet ihm von seiner Vergangenheit und der Geschichte seines Landes, mit einem Schwerpunkt in den 1990er- und 2000er-Jahren.

Wir sprachen mit dem Autor des Romans, Giuliano da Empoli, der früher als politischer Berater von Matteo Renzi arbeitete, als dieser italienischer Ministerpräsident war.

Der Romancier, Essayist und Journalist kam 1973 in Frankreich als Sohn einer deutschsprachigen Schweizer Mutter und eines italienischen Vaters zur Welt.

Er studierte Rechtswissenschaften in Rom und Politikwissenschaften in Paris. Giuliano da Empoli war politischer Berater von Matteo Renzi, damals italienischer Ministerpräsident, und ist heute Vorsitzender des von ihm gegründeten Thinktanks Volta.

Als Journalist arbeitet er für mehrere italienische Tageszeitungen. Als Schriftsteller hat er zahlreiche Bücher und Essays veröffentlicht, darunter «Ingenieure des Chaos», «La rabbia e l’algoritmo», «La prova del potere», «Obama. La politica nell’era di Facebook» usw.

Ein Grossteil seines schriftstellerischen Werks entsteht in der Schweiz, wo er sich häufig im Haus seiner Mutter in Interlaken aufhält. Sein erster Roman «Le mage du Kremlin» wurde am 14. April bei Éditions Gallimard veröffentlicht.

swissinfo.ch: Ist es einfach, gleichzeitig Politologe und Romanautor zu sein?

Giuliano da Empoli: Ich habe lange gebraucht, um diese beiden Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen. Ich war über 20 Jahre lang politischer Berater. Ab einem bestimmten Zeitpunkt war die Romanform für mich eine Möglichkeit, mich über das Wesen der Macht zu äussern durch das, was ich beobachtet und verstanden hatte.

Es stimmt, dass «Der Magier des Kreml» ein Roman über Russland ist, aber er bietet auch eine Reflexion über die Macht im Allgemeinen, ihren Einfluss auf die Menschen und die Bedeutung der Erfahrungen, die sie ihnen vermitteln kann.

Ist das, was Sie die Figuren Putin und Baranow in Ihrem Roman sagen lassen, erfunden oder wahr?

Es gibt einen wahren Kern, das heisst, die geschilderten Ereignisse sind real. Die Dialoge hingegen habe ich mir ausgedacht. Aber ich habe einige Argumente und Zitate von Putin selbst oder von Surkow/Baranow in die Dialoge einfliessen lassen. Bevor ich den Roman schrieb, habe ich viel recherchiert und zahlreiche Personen konsultiert, die in das politische Leben Russlands involviert sind.

Meiner Meinung nach ist die Fiktion jedoch die einzige Möglichkeit, sich in die Gefühlswelt der Figuren einzufühlen. Ich hätte niemals Putin oder die Mitglieder seines Hofstaats direkt befragen können. Und selbst wenn ich das geschafft hätte, hätten sie mir nie gesagt, was sie wirklich denken.

Baranow ist ein Regisseur. Sie sagen, dass er «die Logik des Avantgarde-Theaters» in die Politik bringt. Worin besteht diese «Logik»?

Das Interessante an Baranow und der Unterschied zu den Spin-Doctors, die wir hier im Westen kennen, ist, dass er nicht versucht, die Realität zu reproduzieren, wie es beispielsweise ein klassischer Maler tun würde.

Baranow, ein exzentrischer Künstler und Politikberater – im Gegensatz zu unseren Beratern, die eher eckige Technokraten sind – weiss, dass ihm ein gigantischer Schauspieler gegenübersteht, nämlich Putin. Er weiss, dass dieser sich nicht lenken lässt. Daher zieht er es vor, für ihn eine neue Realität zu erschaffen, ganz im Stil von Avantgarde-Künstlerinnen und -Künstlern.

Aber was ist diese «neue Realität»?

Kurz erklärt: In den 1990er-Jahren erlebte Russland eine Demokratie, die zwar sehr unvollkommen und korrupt war, aber dennoch auf Meinungsfreiheit, Unternehmertum und Wettbewerb zwischen den politischen Parteien basierte.

Putin ist das Ende von all dem, denn mit ihm kehren wir zur Konstruktion einer Mythologie zurück, die aus imaginären Figuren besteht, die direkt aus den Fiktionen der ehemaligen UdSSR stammen.

Ein Beispiel: «Siebzehn Augenblicke des Frühlings», eine bis heute beliebte Fernsehserie aus den 1970er-Jahren, erzählt von den Heldentaten eines sowjetischen Spions, der in Nazi-Deutschland operiert.

Während seines Aufstiegs in den späten 1990er-Jahren begann Putin, sich an dieser Art von Figuren zu orientieren, die ihm den Status eines mythischen Helden verliehen. Ein Spiegelbild, das Baranow gut kennt und fördert, indem er die vielen Gesichter des «Zaren» in Szene setzt.

In Ihrem Roman spricht Putin über die westlichen Demokratien: «Ihre gesamte Weltsicht beruht auf dem Wunsch (…), das Gebiet der Ungewissheit so klein wie möglich zu halten, damit die Vernunft regieren kann. Wir hingegen haben verstanden, dass das Chaos unser Freund ist.» Aber haben unsere Demokratien das auch verstanden?

Putin fühlt sich im Umgang mit dem Chaos sehr wohl, wie auch sein Berater Baranow, ein Manipulator, der es versteht, die Zweideutigkeit zu nähren. Die einzige Möglichkeit, Angst zu verbreiten, besteht darin, sich unverständlich und unberechenbar zu verhalten, wenn man sich in einer Position der Schwäche fühlt.

Das ist Putins Strategie – die wir heute in Aktion sehen können. Es ist jedoch eine Strategie, auf die der ordnungsliebende und disziplinierte Westen schlecht vorbereitet und ausgerüstet ist. Daher ist es sehr schwierig, stabile Beziehungen mit dem russischen Präsidenten aufzubauen.

«Putin fühlt sich im Umgang mit dem Chaos sehr wohl. Die einzige Möglichkeit, Angst zu verbreiten, besteht darin, sich unverständlich und unberechenbar zu verhalten.»

Sie zeigen ein Russland, das vom Westen oft verletzt und gedemütigt wurde. Was ist Ihre Erklärung dafür?

In den späten 1980er-Jahren dachten wir im Westen, dass unser demokratisches Modell gewonnen habe und die ehemalige UdSSR die Verliererin sei.

Das war in der Tat ein Fehler unsererseits, denn die Russinnen und Russen waren immer der Meinung, dass sie selbst den Fall der Mauer wollten, um ein Regime zu beenden, das nicht mehr funktionierte.

Es gab also von Anfang an eine unzutreffende Interpretation der Fakten, die auch heute noch zu tragischen Missverständnissen führt.

Seltsamerweise hasst man Putin nicht, nachdem man Ihren Roman gelesen hat…

Es war nicht mein Ziel, ihn zur Hassfigur zu machen. Ich denke jedoch, dass der «Zar» am Ende des Buchs Furcht einflösst, was meiner Meinung nach der Realität entspricht.

Ich möchte daran erinnern, dass ich das Buch, das Mitte April veröffentlicht wurde, vor zwei Jahren geschrieben habe. Das war lange vor dem Einmarsch in die Ukraine. Ich weiss nicht, ob ich heute das gleiche Werk noch einmal schreiben könnte.

Die grossen russischen Schriftsteller haben Russland genauso geformt wie seine grossen Herrscher. Sie nennen Gogol, Tschechow, Tolstoi, Samjatin usw. und verweisen auf ihr patriotisches Genie. Ist die Lektüre dieser Werke für westliche Politikerinnen und Politiker Pflicht?

Ja, auf jeden Fall, vor allem, wenn man verstehen will, was heute vor sich geht. Vor allem die russische Literatur spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf die Gesellschaft und das politische Leben in Russland.

Und das aus gutem Grund: Die Wahrheit wird in Russland in der Regel verdrängt oder unterdrückt. Die Aufgabe der Literatur besteht also darin, diese Wahrheit zu verbreiten. Oder zumindest zu versuchen, an sie heranzukommen, ohne dabei unbedingt ideologisch zu sein.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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