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China-Besuch «unglaublich schädlich» für Bachelets Erbe

Michelle Bachelet
Die scheidende Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, wurde vor allem für ihre Haltung gegenüber China kritisiert. Aber der Job ist ein Drahtseilakt. Keystone / Martial Trezzini

Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet kündigte im Juni an, dass sie nicht für ein zweites Mandat zur Verfügung stehe. Sie begründete dies damit, dass sie mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen wolle. Der Entscheid stehe nicht im Zusammenhang mit ihrem jüngsten umstrittenen und teils hart kritisierten Besuch in China, sagte sie. Was wird ihr Vermächtnis sein, und was wird von ihrer Nachfolge erwartet?

«Michelle Bachelet kam mit ihrer einzigartigen Perspektive als Opfer von Menschenrechtsverletzungen, als Aktivistin und als Staatsfrau in dieses Amt», sagt Jürg Lauber.

Er ist der Schweizer Botschafter bei der UNO in Genf, wo das Menschenrechtsbüro seinen Sitz hat. «Während sie auf Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt aufmerksam machte, hat sie Brücken gebaut, den Dialog gesucht und Zusammenarbeit angeboten.»

Bachelet war von 2014 bis 2018 Präsidentin von Chile und als solche die erste Frau in Lateinamerika, die an die Spitze eines Staats gewählt wurde. Sie wurde unter dem Pinochet-Regime inhaftiert. Ihr Vater war in einem der Gefängnisse des Diktators gestorben, nach täglichen Folterungen.

Sie wurde im September 2018 UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte. Ihr vierjähriges Mandat umfasste die Covid-19-Pandemie und grosse Menschenrechtskrisen, darunter in Myanmar, Jemen, Afghanistan, Äthiopien und Südsudan, sowie den Anfang dieses Jahres ausgebrochenen Krieg gegen die Ukraine. Ihre Amtszeit wurde gegen das Ende getrübt durch einen viel kritisierten Besuch in der chinesischen Provinz Xinjiang.

«Ihr Büro hat sich sehr für einen menschenrechtsbasierten Ansatz zur Bewältigung der Covid-Krise und ihrer Folgen eingesetzt», sagt Lauber gegenüber swissinfo.ch. Bachelet sei auch eine «starke Fürsprecherin für die Herausforderungen des Klimawandels, der Armut und der Ungleichheit» gewesen.

Phil Lynch, Direktor der in Genf ansässigen Nichtregierungsorganisation Internationaler Dienst für MenschenrechteExterner Link (ISHR), stimmt zu, dass Bachelet in diesen Fragen eine wichtige Rolle gespielt hat. Ebenso wie in den Bereichen Migration, systemischer Rassismus und Förderung der Impfgerechtigkeit im Zusammenhang mit Covid-19.

Aber er kritisiert ihre Herangehensweise an Ländersituationen, in denen sie, wie er sagt, «den freundschaftlichen Dialog mit den Regierungen gegenüber dem privilegiert hat, was wir als die Interessen eines konsequenten, nicht-selektiven, prinzipienfesten Ansatzes im Umgang mit Menschenrechtskrisen bezeichnen würden».

Der China-Besuch

Das berüchtigtste Beispiel, so Lynch weiter, sei China, «wo sie es völlig versäumt hat, die Menschenrechtssituation im Land anzusprechen, einschliesslich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang, sowie der weit verbreiteten Unterdrückung in Tibet und Hongkong, des Verschwindenlassens von Personen und der willkürlichen Inhaftierung von Menschenrechtsaktivistinnen, -aktivisten und Rechtsvertretenden im ganzen Land».

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Bachelet habe mit ihrer Haltung gegenüber China einen «ausgeprägten Mangel an Solidarität mit den Opfern oder den Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten und die Unfähigkeit oder den Unwillen gezeigt, eine mächtige Regierung zur Verantwortung zu ziehen», sagt Lynch.

Bachelets jahrelang vorbereiteter Besuch in China Ende Mai, bei dem ihr vorgeworfen wurde, Peking zu sehr entgegenzukommen, wurde von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International sowie von einigen Staaten scharf kritisiert.

Sie haben ihr auch vorgeworfen, dass sie – vielleicht wegen des China-Besuchs – die Veröffentlichung eines brisanten UNO-Berichts über MenschenrechtsverletzungenExterner Link in der Provinz Xinjiang zurückgehalten habe.

In dieser Region hat Peking vielen glaubwürdigen Berichten zufolge etwa eine Million Angehörige der muslimischen uigurischen Minderheit unrechtmässig inhaftiert. Die Fakten dafür gelten heute als wasserdicht.

Peking behauptet, die Gefangenenlager dienten der Umerziehung und Ausbildung, und bestreitet Vorwürfe von Folter, Zwangsarbeit und anderen Misshandlungen wie die Sterilisierung von Insassinnen. Die USA sprechen in dem Zusammenhang von Genozid.

«Es ist schwer, den China-Besuch am Ende ihrer Amtszeit ausser Acht zu lassen», sagt Sherine Tadros, stellvertretende Direktorin für Advocacy bei Amnesty International, die auch das AI-Büro bei der UNO in New York leitet. «Ich denke, das hat ihr Vermächtnis getrübt. Das ist es, was von ihr in Erinnerung bleiben wird.»

Bei der Verteidigung von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten stehe Bachelet «definitiv an vorderster Front und ist sehr engagiert», sagt Tadros gegenüber swissinfo.ch. Ihr Büro habe einen aussagekräftigen Bericht über Venezuela erstellt, der von Amnesty International begrüsst werde.

Aber ihr Vorgehen bei dem Besuch in China sei schädlich gewesen. «Ich denke, wenn man eine Familie eines Opfers ist oder ein Lager überlebt hat, ist es sehr schwierig, ihre Worte zu vergessen, die sie in China über ‹Ausbildungslager› sagte und damit die Propagandasprache der Regierung übernahm», sagt Tadros. «Das ist unglaublich schädlich. Und ich bin mir nicht sicher, wie man das wiedergutmachen kann.»

Lynch stimmt ihr zu. «Natürlich sind Dialog, Zusammenarbeit und technische Hilfe wichtige und legitime Mittel, um die Menschenrechte voranzubringen. Falls der politische Wille vorhanden ist», sagt er.

«Aber wenn die Verstösse institutionalisiert und weit verbreitet oder sogar Teil der Regierungspolitik sind, wie es in Xinjiang der Fall ist, dann ist es wichtig, sie zu überwachen, zu melden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.»

Der Bericht

Zu Beginn der soeben zu Ende gegangenen Sitzung des Menschenrechtsrats in Genf kündigte Bachelet an, dass sie vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt Ende August eine aktualisierte Fassung des Xinjiang-Berichts veröffentlichen werde, die der chinesischen Regierung zur Stellungnahme vorgelegt werden soll. Kann sie ihre Meinung über China noch revidieren?

«Wir müssen abwarten, was in dem Bericht steht und ob der Beitrag der chinesischen Regierung, den sie am Ende noch einmal zuliess, das abschwächt, was wir als einen ziemlich starken Bericht verstanden haben», sagt Tadros. «Denn die Beweise vor Ort, wie sie von Human Rights Watch, Amnesty International und vielen anderen dokumentiert wurden, sind sehr stark und überzeugend.»

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Untätig geblieben?

Lynch ist der Meinung, dass Bachelet auch in einigen anderen Ländern wie Ägypten, Saudi-Arabien, Bahrain und Venezuela «nicht richtig gehandelt» hat, da ihre Bewertung der Menschenrechtsreformen «zu rosig» ausgefallen sei.

Ausserdem habe Bachelet die Zivilgesellschaft nicht in dem Masse konsultiert oder einbezogen, wie es einige ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger wie Navanethem Pillay aus Südafrika oder Zeid Ra’ad Al Hussein aus Jordanien getan hätten, kritisiert Lynch weiter.

Khalid Ibrahim, Direktor des Gulf Centre for Human Rights, stimmt dem zu. Er sagt, dass während der Amtszeit von Bachelet viele Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten in Ländern wie Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten inhaftiert wurden und «sie sehr wenig getan hat, um die Menschenrechtssituation in unseren Ländern zu verbessern». Er beklagt auch die mangelnde Zugänglichkeit für Menschenrechtsgruppen wie jene, die er vertritt.

Ibrahim räumt ein, dass die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte eine schwierige Aufgabe hat, aber er ist der Meinung, dass Bachelet zu viel Zeit damit verbracht habe, mit Staaten zu sprechen und nicht genug mit der Zivilgesellschaft.

Wenn man die Stimme der Stimmlosen sein wolle, «muss man den Verteidigenden der Menschenrechte vor Ort zuhören, man muss wissen, was vor sich geht», sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Suche nach einer neuen Führungspersönlichkeit fürs Hochkommissariat

Eine Sprecherin der Vereinten Nationen in Genf erklärte Mitte Juni, dass der Rekrutierungsprozess für Bachelets Nachfolge im Gang sei.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres werde die nächste UNO-Hochkommissarin oder den nächsten UNO-Hochkommissar für Menschenrechte der Generalversammlung zur Genehmigung vorschlagen, sobald jemand Geeignetes gefunden sei. Eine Ankündigung werde «zu gegebener Zeit» erfolgen.

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Wie wichtig ist diese Position, vor allem angesichts der politischen Zwänge? «Sie ist überlebenswichtig. Es ist die Stimme der Menschenrechtsgemeinschaft», sagt Tadros von Amnesty International.

«Ich denke, es ist eine unglaublich schwierige Aufgabe, genau wie der Job des UNO-Generalsekretärs. Es ist nicht zu übersehen, wie heikel es ist, einerseits mit Staaten zu verhandeln, um Zugang zu erhalten und das eigene Personal zu schützen, andererseits aber auch die Wahrheit zu sagen und aufzudecken, was in verschiedenen Ländern vor sich geht. Es ist ein echt schwieriges Gleichgewicht, aber Bachelet hat das falsch gemacht.»

Lauber, der Schweizer Botschafter bei der UNO in Genf, sagt, dass jede Person, die das Hochkommissariat für Menschenrechte übernimmt, «ein starkes Engagement für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte weltweit zeigen und die nötige Ernsthaftigkeit besitzen muss, um den Dialog mit allen Staaten aufzunehmen».

Lynch ist der Meinung, dass es noch mehr braucht: «Wir sind der Meinung, dass die Rolle des Hochkommissariats darin besteht, die Menschenrechte zu verteidigen. Die Person soll die weltweit führende Rechtsvertretung und die Verteidigung der Menschenrechte sein, im Gegensatz zur Rolle der Diplomatie oder von politischen Gesandten.»

«Transparenter» Prozess gefordert

Mehr als 60 Nichtregierungsorganisationen, darunter ISHR, Amnesty International und Human Rights Watch, haben im Juni einen offenen Brief an UNO-Generalsekretär Guterres geschickt, in dem sie ein «transparentes, leistungsorientiertes und konsultatives Verfahren» zur Auswahl der nächsten Führungsperson des Hochkommissariats für Menschenrechte fordern.

«Er sollte eine umfassende und sinnvolle Konsultation mit unabhängigen Menschenrechtsorganisationen sowie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten beinhalten», heisst es darin. «Da das Mandat von Hochkommissarin Bachelet am 31. August 2022 ausläuft, muss dieser Prozess unbedingt schnell vorankommen.»

«Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass das Hochkommissariat eine Initiative der Zivilgesellschaft war», sagt Lynch. «Es war die Zivilgesellschaft, die im Vorfeld der Zweiten Weltkonferenz über Menschenrechte im Jahr 1993 die Notwendigkeit und die Bedeutung einer globalen Führungspersönlichkeit und einer Verfechterin der Menschenrechte erkannte, um diese weltweit voranzubringen.»

«Es muss eine Konsultation mit der Zivilgesellschaft stattfinden», sagt Ibrahim vom Gulf Centre for Human Rights, der das Schreiben unterzeichnet hat. Seine Organisation habe die Nase voll davon, dass die UNO-Hochkommissarinnen und -kommissare «hinter verschlossenen Türen» ausgewählt würden.

Neil Hicks, Senior Advocacy Director des Kairoer Instituts für Menschenrechtsstudien, das ebenfalls unterzeichnet hat, stimmt dem zu. «Wir möchten, dass die Zivilgesellschaft öffentlich miteinbezogen wird. So kann die internationale Gemeinschaft sehen, dass die UNO sich dafür einsetzt, dass Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft in diesem Prozess eine Stimme haben.»

Hicks sagt, dass dies eine wichtige Anerkennung ihrer Rolle wäre, speziell in einer Zeit, in der sie in vielen Teilen der Welt, einschliesslich des Nahen Ostens und Nordafrikas, Gefahr laufen, «ausgerottet» zu werden.

«Was wir im Moment haben, ist eine Stellenausschreibung, die wir alle online sehen können, um uns für den Spitzenposten im UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte zu bewerben», sagt Tadros von Amnesty International.

«Darüber hinaus wissen wir nichts. Wir wissen nicht, wer sich beworben hat, was die wirklichen Kriterien sind, ob es ein echter Prozess ist oder nur eine dieser Ankreuz-Übungen.»

Bearbeitet von Imogen Foulkes

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