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Nachkommen von Nazis und Deportierten kämpfen vereint gegen Hass

Ein alter Mann steht zwischen Steinumrissen.
Ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslages Neuengamme bei Hamburg steht zwischen Steinumrissen, welche die Standorte der ehemaligen Gefangenenbarracken darstellen sollen. Hier haben sich die vier Teilnehmenden der Treffen in Lausanne und Freiburg 2014 getroffen. Keystone

Am 27. Januar 1945 befreiten die Alliierten die Insassen des Vernichtungslagers Auschwitz. Seither ist dies der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Vor dem 74. Jahrestag der Befreiung hat ein Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus in der Westschweiz zwei Treffen zwischen Gymnasiasten und vier Nachkommen von Nazis und Deportierten organisiert. Die Anlässe fallen in eine Zeit, wo in Europa Angst, Hass und Spannungen zunehmen.

Die Stimmung in der Aula des Palais de Rumine in Lausanne an diesem Morgen ist gedrückt. Gut vorbereitet auf dieses Treffen hören die in grosser Zahl erschienenen Gymnasiasten den ungewöhnlichen Gästen zu: Es sind dies Söhne und Töchter von Nazi-Verbrechern und deportierten Widerstandskämpfern. Die Nachkommen der Täter und Opfer sind da, um ihre Erfahrungen mit der Nazi-Katastrophe zu teilen. Und um die aktuellen Tendenzen zu bekämpfen, die zu einer solchen Katastrophe führen können.

Denn die Zeitzeugen der Nazi-Verbrechen sterben allmählich aus, während rechtsextreme Gruppen sich immer offener äussern und die Juden zusammen mit anderen Sündenböcken wieder stigmatisieren. Auch wenn der Kontext heute ein anderer ist als im Europa vor 100 Jahren, das durch den Ersten Weltkrieg zerstört und traumatisiert war.

Erinnerung und Geschichte

Organisiert hat das Treffen in Lausanne der Verein Interkommunale Koordination gegen Antisemitismus und Verleumdung (CICADExterner Link). Er kämpft seit 1991 in der Westschweiz gegen Antisemitismus und für die Bewahrung der Erinnerung an die Shoah.

Für CICAD ist der Weckruf an das Bewusstsein aktueller denn je. Da die letzten Überlebenden bald alle tot sein werden, setzt der Verein auf die zweite Generation, um «das Andenken an die Millionen Vernichteten» weiterzutragen.

Der Verein mit Sitz in Genf arbeitet hierfür mit den Nachkommen von Opfern und Tätern zusammen. Diese Partnerschaft geht auf ein Treffen im Jahr 2014 in der Gedenkstätte des KZ Neuengamme bei Hamburg zurück. Dort begannen Ulrich Gantz, Sohn eines Angehörigen der Polizei des Dritten Reiches und der Einsatzgruppen, Barbara Brix, Tochter eines Einsatzgruppenarztes, Yvonne Cossu, Tochter eines deportierten Widerstandsführers und Jean-Michel Gaussot, ebenfalls Sohn eines deportierten Widerstandskämpfers, ihren Dialog und ihr gemeinsames Engagement.

Eine ältere Frau und ein älterer Herr stehen vor einer Holzwand.
Nach der Konferenz in Lausanne diskutieren Yvonne Cossu und Jean-Michel Gaussot mit Teilnehmenden. swissinfo.ch

In Lausanne und Freiburg erzählen sie Seite an Seite ihre Geschichten. Mit der Angst, dass sich eine solche Tragödie in der einen oder anderen Form wiederholen wird, hinterfragen sie die Mechanismen, die Millionen von Menschen dazu führten, das NS-Regime zu akzeptieren und ihm zu folgen.

Die Stärke des Treffens besteht darin, sich sowohl als Sprecher als auch als Zuhörer auf die Ebene des Individuums zu begeben. «Wann müssen wir Nein sagen? Wo ist die rote Linie, die wir nicht überschreiten dürfen», fragt Ulrich Gantz das Publikum. «Sobald wir aufhören, den anderen als unseren Mitmenschen zu betrachten, kann das Schlimmste passieren», ergänzt Jean-Michel Gaussot.

Barbara Brix’s Vater war wie Ulrich Gantz Arzt der Einsatzgruppen, der mobilen SS- und Polizeieinheiten, die ab 1941 hinter den deutschen Truppen an der russischen Front systematisch Massaker an Juden verübten. Der katholische Priester Patrick Desbois sprach vor einigen Jahren von der «Shoah durch Kugeln». Er hatte diese erste Periode des Holocaust durch die Nazis in ihrem sogenannten «Lebensraum» lange erforscht.

Langer Weg aus dem Schweigen

Es dauerte einige Zeit, bis sich die pensionierte Lehrerin der wahren Vergangenheit ihres Vaters stellte. «Nach dem Krieg wurde in meiner Familie kaum noch darüber gesprochen, wie in einem grossen Teil der deutschen Gesellschaft», sagt Barbara Brix gegenüber swissinfo.ch.

Eine Frau mit Halstuch spricht mit einer Frau, im Hintergrund eine Türe und weitere Menschen.
Barbara Brix in Lausanne: «Ich bin nicht sicher, ob ich die Rechtfertigungen meines Vaters ertragen hätte.» swissinfo.ch

Klar, es gab den wichtigen Nürnberger Prozess (1945/46) gegen hohe NS-Mitglieder. Aber gegenüber ehemaligen NS-Verbrechern blieb die deutsche Justiz vorerst weitgehend passiv. Gebrochen wurde mit diesem Schweigen in den 1960er-Jahren.

«Damals floh mein Onkel, ein ehemaliger NS-Würdenträger, der Adolf Hitler nahestand, in die Schweiz und nach Italien, um den laufenden Ermittlungen gegen ihn zu entgehen», erinnert sich Barbara Brix.

Ein deutsches Gericht verurteilte ihn schliesslich 1969. «Das hat mich sehr verstört. Ich war total loyal gegenüber meiner Familie und es tat mir leid für diesen Onkel. Wir erzählten uns, dass die jüdischen Zeugen von Hass getrieben seien und dass ihr Gedächtnis unzureichend sei.»

Nach ihrem Geschichts- und Französischstudium in der gleichen Zeit begann Barbara Brix besser zu verstehen, was in Deutschland geschehen war, zumal viele Bücher und Filme zu diesem Thema erschienen.

«Meine Schwester und ich waren in die antiautoritäre Bewegung involviert und wir begannen, wie viele andere, unseren Eltern permanent Fragen zu stellen, über das was sie damals wussten und getan hatten», sagt Barbara Brix. «Und die Reaktionen meines Vaters, der nicht wusste, was antworten, enttäuschten mich sehr. Ich hatte ihn für stark und moralisch aufrichtig gehalten. Er leugnete vieles. Ich hätte meinem 1980 verstorbenen Vater mehr Fragen stellen können. Aber was hätte er geantwortet? Ich weiss nicht, ob ich seine Rechtfertigungen ertragen hätte.»

Und die Schweiz?

Könnte ein solches Treffen auch zwischen Schweizern stattfinden? «Das ist die Frage, die uns unsere deutschen Partner gestellt haben», antwortete der CICAD-Generalsekretär Johanne Gurfinkiel. «Die Schweiz hat sich nicht an der Deportation und Vernichtung von Juden beteiligt. Die Schweizer Bevölkerung hat sich stark für die Rettung der Verfolgten eingesetzt. Aber Bern spielte dennoch eine Rolle in der Vernichtungspolitik.» Johanne Gurfinkiel erwähnt die Schliessung der Grenzen 1942 und die Anbringung eines «J»-Stempels in den Pässen der Juden, die versuchten, die Grenze zu überschreiten.

Eine sachliche Debatte zu diesem Thema sei jedoch immer noch nicht immer möglich, stellt Johanne Gurfinkiel fest: «Die Frage nach der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs ist nach wie vor ein komplexes und brennendes Thema.» Doch wolle man das Thema noch immer nicht direkt angehen und alles auf den Tisch legen.

Der CICAD-Generalsekretär verweist auf die Hunderten Schweizer, die der SS und der Wehrmacht beigetreten sind. «Der Umfang dieses Engagements wird trotz einiger historischer Recherchen und mehrerer Presseartikel zu diesem Thema klein gehalten. Es geht nicht darum, der Schweiz den Prozess zu machen, sondern alle Informationen über diese schreckliche Zeit zur Verfügung zu haben. Es ist immer eine Ehre für ein Land, sich seiner Geschichte zu stellen, um seine Zukunft aufzubauen.»

(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)

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