Riskiert die Schweiz mit eingeschränkter Einwanderung einen «Swixit»?
Sollte die Initiative "für eine massvolle Zuwanderung" angenommen werden, hätten Europäerinnen und Europäer einen weniger freien Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt. Mit ihrer Vorlage, die am 27. September zur Abstimmung kommt, versucht die Schweizerische Volkspartei erneut, den freien Personenverkehr mit der Europäischen Union abzuschaffen. Die Regierung befürchtet einen Brexit Marke Schweiz.
Das Ende des freien Personenverkehrs und eine Rückkehr zu Quoten, um die europäische Zuwanderung zu regeln: Die Schweizerinnen und Schweizer entscheiden am 27. September über eine grundlegende Neuausrichtung der Ausländer-Aufnahmepolitik des Landes. Die Abstimmung war für den 17. Mai geplant, wurde aber wegen der Covid-19-Pandemie verschoben.
Mit ihrer Volksinitiative «für eine massvolle Zuwanderung»Externer Link, auch «Begrenzungs-Initiative» genannt, verlangt die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), dass die Schweiz die Einwanderung autonom regelt. Mit der Einführung eines neuen Artikels 121b in der BundesverfassungExterner Link soll schlicht und einfach das bilaterale Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen UnionExterner Link (EU) aufgekündigt werden.
Konkret soll auf dem Verhandlungsweg mit Brüssel angestrebt werden, dieses Abkommen innerhalb von zwölf Monaten nach Annahme des Verfassungsartikels durch Volk und Stände (Kantone) ausser Kraft zu setzen. Falls das nicht gelingt, müsste der Bundesrat (Landesregierung) das Abkommen innert weiteren 30 Tagen aufkündigen.
Das Ziel des Initiativtextes ist, den Zustrom von europäischen Arbeitnehmenden in die Schweiz zu bremsen. Diese hätten keinen freien Zugang mehr zum Schweizer Arbeitsmarkt, sondern würden wieder einem Quotensystem unterliegen, wie es vor dem Inkrafttreten des Abkommens im Jahr 2002 angewandt wurde.
Die SVP will mit der Vorlage sicherstellen, dass ihre am 9. Februar 2014 vom Stimmvolk angenommene «Masseneinwanderungs-Initiative» umgesetzt wird. Unterstützt wird sie dabei von der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns).
Die Initiative hatte von der Regierung verlangt, jährliche Obergrenzen und Quoten einzuführen, um die Zuwanderung zu begrenzen. Weil die SVP diese als nicht korrekt umgesetzt erachtete, lancierte sie die Begrenzungs-Initiative, die innerhalb von sechs Monaten von 120’000 Personen unterzeichnet wurde.
«Ich halte die Migration für die Hauptursache der CO2-Emissionen.» Albert Rösti
«Wir wollen keine 10-Millionen-Schweiz», sagte SVP-Parteipräsident Albert Rösti an der Delegiertenversammlung der Partei Ende Januar. Für die rechtskonservative Partei ist die Einwanderung in die Schweiz «unkontrolliert und unverhältnismässig». Sie listet eine Menge von negativen Konsequenzen der Personenfreizügigkeit auf: Druck auf Beschäftigung und Löhne, steigende Immobilienpreise und Wohlfahrtskosten, Überlastung des Transportwesens.
Auch wenn der Umweltschutz nie im Zentrum ihres Parteiprogramms stand, beschloss die SVP, auf der grünen Welle zu surfen, indem sie die «schädlichen» Auswirkungen der Einwanderung auf die Umwelt anprangert. «Ich halte die Migration für die stärkste Triebkraft der Ressourcenverschwendung und damit für die Hauptursache der CO2-Emissionen», sagte Rösti.
Der Bundesrat empfiehlt die Begrenzungs-Initiative zur Ablehnung. Die Aufkündigung des Freizügigkeits-Abkommens würde einem «Schweizer Brexit» gleichkommen, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter im Verlauf der Debatten im Parlament.
Denn dieses Abkommen hängt über eine so genannte Guillotine-Klausel mit sechs anderen Abkommen zusammen. Diese garantieren der Schweiz einen nahezu diskriminierungsfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt.
Eine Beendigung würde somit das Ende des gesamten Pakets der Bilateralen Abkommen 1 bedeuten. Ein solches Szenario würde die Exportmöglichkeiten für Schweizer Unternehmen einschränken, gewisse Arbeitsplätze gefährden und zu höheren Preisen für Konsumgüter führen, warnt die Regierung.
Zudem würde das Ende des freien Personenverkehrs die Gefahr mit sich bringen, dass sich der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften verschärfe, befürchtet der Bundesrat. Selbst wenn die Schweiz es schaffen würde, ihre Staatsangehörigen besser zu beschäftigen, bliebe sie immer noch stark von ausländischen Arbeitskräften abhängig. Dies besonders angesichts der Alterung der Schweizer Bevölkerung und der durch die Digitalisierung entstandenen Bedürfnisse.
Schliesslich habe die Personenfreizügigkeit auch nicht zu einer Zunahme der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen oder einer Verschlechterung des Arbeitsmarkts geführt, betont die Regierung.
Mit der Coronavirus-Krise gibt es nun ein gemeinsames Ziel: Die Wirtschaft muss sich schnell erholen können. «Unternehmen brauchen Stabilität, keine riskanten Experimente», sagt Karin Keller-Sutter.
Ein Ende der Personenfreizügigkeit würde sich auch auf die 760’200 im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer auswirken, so die Regierung. Eine Kündigung des Abkommens würde deren Rechte und ihren Zugang zum EU-Arbeitsmarkt gefährden.
Im Abstimmungskampf steht die konservative Rechte gegen den Rest. Von links bis rechts auf dem politischen Schachbrett sind die anderen Parteien gegen die SVP-Vorlage und verteidigen den freien Personenverkehr. Beide Parlamentskammern lehnten die Begrenzungs-Initiative entschieden ab.
Das Gespenst des 9. Februars 2014 schwebt über der Kampagne. Damals hatte das Schweizer Stimmvolk in einer besonders knappen Abstimmung beschlossen, die Einwanderung zu bremsen. Während der nächsten drei Jahre bestimmten die Debatten über die Umsetzung der SVP-Vorlage, ohne dass die Wirtschaft Schaden nimmt, die politischen Diskussionen in Bern. Dabei blieben die Beziehungen zwischen Brüssel und Bern angespannt.
Viele Kreise haben ein Interesse daran, dass sich eine solche Geschichte nicht wiederholt – allen voran die Gewerkschaften. Vor sechs Jahren hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) die «Masseneinwanderungs-Initiative» praktisch nicht bekämpft. Man war enttäuscht über die Weigerung der Arbeitgeber, flankierende Massnahmen zu ergreifen, um Lohndruck zu vermeiden.
Der Schweizer Gewerkschafts-Dachverband zeigte sich danach überrascht über die knappe Annahme der Initiative. Um einen ähnlichen Misserfolg zu verhindern, beschloss der SGB diesmal, zum Zweihänder zu greifen: Er investiert eine halbe Million Franken in die Kampagne. Eine solche Summe hat der Gewerkschaftsbund noch nie für den Kampf gegen eine Initiative in die Hand genommen.
Sollte die Initiative angenommen werden, befürchtet der SGB eine Deregulierung des Arbeitsmarkts. Denn mit dem freien Personenverkehr würden auch die flankierenden Massnahmen verschwinden. Laut dem Gewerkschaftsbund haben diese einen besseren Schutz der Schweizer Arbeitnehmenden gebracht.
Trotzdem versuchen die Gewerkschaften in diesem Dossier einen Balanceakt, weil sie sich weiterhin gegen die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens durch die Regierung stellen. Dieses soll die langfristigen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel regeln. Das Abkommen aber schützt ihrer Ansicht nach die Schweizer Löhne nicht ausreichend.
Der Wirtschafts-Dachverband Economiesuisse hat die Kampagne gegen die Begrenzungs-Initiative zu seiner Priorität für das Jahr 2020 erklärt. Im Gegensatz zu dem, was die SVP behaupte, ist der Verband überzeugt, dass die Annahme der Volksinitiative alle bilateralen Abkommen 1 zu Fall bringen würde.
Die Folgen eines solchen Szenarios wären verhängnisvoll, hielt ein 2015 publizierter Bericht des Staatssekretariats für WirtschaftExterner Link (Seco) fest. Ein Wegfall der sieben Abkommen würde den Zugang zum EU-Binnenmarkt einschränken, woraus eine Verschlechterung der Schweizer Wettbewerbsfähigkeit resultieren würde. Das Brutto-Inlandprodukt würde gemäss der Studie bis 2035 um 5 bis 7% sinken.
Obwohl die SVP das Schreckgespenst der «masslosen» Einwanderung an die Wand malt, stützen die nackten Zahlen ihre Behauptungen nicht. Die Entwicklung der Zuwanderung hängt in erster Linie von den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft und der wirtschaftlichen Situation im Ausland ab.
Die Einführung der vollen Freizügigkeit für EU-15/EFTA-Bürgerinnen und -Bürger fiel mit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 zusammen. Weil die Schweizer Wirtschaft weniger stark betroffen war als jene der südeuropäischen Länder, nahm die Einwanderung mehrere Jahre lang stark zu. Zwischen 2013 und 2018 halbierte sich jedoch mit der Rückkehr des Wachstums in Europa die Nettoeinwanderung von fast 61’000 auf 30’900 Personen.
Für die SVP dürfte es schwierig werden. Da die europäische Zuwanderung seit 2013 zurückgegangen ist, wird die rechtskonservative Partei wohl Schwierigkeiten haben, mit der Angst vor einem massiven Zustrom von Arbeitnehmenden aus der EU zu spielen. Der Rahmen ist nicht mehr derselbe wie damals, als das Schweizer Stimmvolk die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» annahm.
Zudem hatten die Stimmberechtigten vor dem 9. Februar 2014 den bilateralen Weg in Eidgenössischen Abstimmungen immer unterstützt. Im Jahr 2000 akzeptierte das Stimmvolk mit 67,2% der Stimmen die bilateralen Abkommen 1, welche namentlich die Einführung der Personenfreizügigkeit vorsahen. Fünf Jahre später stimmte es der Ausdehnung des freien Personenverkehrs auf zehn neue EU-Mitgliedstaaten zu. Und 2009 auch auf die beiden neuen Mitglieder des europäischen Clubs, Bulgarien und Rumänien.
Eine Überraschung ist jedoch nicht auszuschliessen. Bei der Abstimmung über die «Masseneinwanderung» hatte sich die SVP allein gegen alle anderen durchgesetzt und damit einen wahren Donnerschlag ausgelöst.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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