Berlin stimmt am Wahlsonntag auch über Enteignungen ab
Am 26. September, dem Tag der grossen Wahlen in Deutschland, stimmen die Berlinerinnen und Berliner auch über die Enteignung grosser Immobilienkonzerne ab. Wie bei vergleichbaren Vorstössen in der Schweiz setzt eine Volksinitiative auf den Frust über explodierende Mieten in der deutschen Hauptstadt.
Erst nach dem zweiten Klingeln öffnet die Frau im beigen Schlafanzug die Wohnungstür. Es ist Freitag am frühen Abend. Sie schaut die beiden Aktivistinnen im Hausflur skeptisch an. Deren lila Westen mit den gelben Slogans der Initiative sind zugleich ihr Ausweis: Deutsche Wohnen & Co Enteignen steht dort.
In der Hand halten sie Infomaterial. «Kennen Sie den Volksentscheid?», fragt Britta (die ihren Nachnamen nicht genannt haben möchte) von der Initiative ihr Gegenüber im Türrahmen. Nein, und die Frau hat offensichtlich auch kein Interesse, mehr zu erfahren. Es scheint der falsche Moment für lange Erklärungen. Die Tür schliesst sich wieder. Zum Glück läuft es nebenan besser. Ein junger Mann öffnet, er lächelt. «Ja, ich weiss, worum es geht.» Er wird beim Volksentscheid sein Kreuz für die Initiative setzen.
Die Volksinitiative will die grossen Immobilienkonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen in Berlin vergesellschaften. Es geht um mehr 240’000 der 1,5 Millionen Mietwohnungen in der Hauptstadt Deutschlands. Sie sollen vom Berliner Senat weit unter Marktwert zurückgekauft und anschliessend gemeinwohlorientiert verwaltet werden. Dabei beruft sich die Initiative auf Artikel 13 und 15 des Grundgesetzes, die Vergesellschaftungen ermöglichen.
Der Wahlkampf in der Hauptstadt steckt in der heissen Phase. Das gilt nicht nur für die Frage, wie die nächste Bundesregierung aussehen wird, sondern auch für das Berliner Volksbegehren. Rund 2000 Ehrenamtliche ziehen derzeit durch Wohngebiete der Stadt, klopfen an Türen, stehen an Infoständen, füttern Blogs mit Informationen oder arbeiten im Hintergrund. Sie haben eine gute Chance, und die wollen sie nutzen.
Dass über die Enteignungsfrage am Superwahlsonntag abgestimmt wird, kommt ihr voraussichtlich zugute. In Berlin fallen die Bundestagswahl, die Wahl zum Abgeordnetenhaus des Bundeslandes und die Kommunalwahlen der Berliner Bezirke auf diesen Tag. Die Wahlbeteiligung wird also entsprechend hoch sein.
Für einen Erfolg des Volksentscheids müssen ihn mindestens 25 Prozent der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger unterstützen. In der Schweiz gibt es bei Volksabstimmungen weder Zustimmungs- noch Beteiligungsquoren. Die sich beteiligenden Stimmenden entscheiden mit einfacher Mehrheit.
Frust über steigende Mieten ist hoch
Die Stimmung in der Hauptstadt könnte das Begehren zum Erfolg tragen. Der Frust über Verdrängung und exorbitante Mieten ist hoch. Wie in vielen anderen Städten ist das Thema Wohnen in Berlin zum Politikum geworden.
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Einst war die Stadt für ihren billigen Wohnraum international bekannt. Die Zeiten sind vorbei: Durch Zuzug, Gentrifizierung und den Einstieg von Investoren, die mit ihrem Wohnungsbestand Rendite erzielen wollen, zeigen die Mietpreise beständig nach oben. Auch alteingesessene Berliner bekommen dies zu spüren.
Insofern trifft die Initiative einen Nerv, die Aufmerksamkeit ist entsprechend. Die Wirtschaft warnt derweil vor Verstaatlichungen, die Politik vor Investitionseinbrüchen auf dem Wohnungsmarkt. Man solle lieber rasch neue Wohnungen bauen, statt bestehende zu enteignen. Nur die Grünen und die Linken sympathisieren mit dem Volksentscheid.
Kein Ruf nach Enteignungen in der Schweiz
Die Debatte um bezahlbaren Wohnraum kennt auch die Schweiz, was immer wieder zu Volksabstimmungen führt: Die jüngste nationale Abstimmmung zum Thema Wohnbau, die Volksinitiative verlangte mehr bezahlbaren Wohnraum, liegt nur gut ein Jahr zurück. Schon vor zehn Jahren entschieden die Zürcher und Zürcherinnen in einem Volksentscheid, den Anteil an günstigen, gemeinnützigen Genossenschaftswohnungen bis 2050 auf ein Drittel erhöhen.
Vor allem in den grösseren Städten wird versucht, Mietsteigerungen zu begrenzen. In Genf sind bereits seit 1996 Modernisierungen nur noch zulässig, wenn sie nicht die Miete in die Höhe treiben. Basel führt zum 1. Januar 2022 eine Bewilligungspflicht von Luxussanierungen und eine Deckelung der Mieterhöhungen bei einem Leerstand von unter 1,5 Prozent ein.
SWI swissinfo.ch widmet der richtungsweisenden Parlaments- und Kanzlerwahl im wichtigsten Land Europas eine dreiteilige Serie.
Nach 16 Jahren endet am 26. September die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Einerseits wird der neue Bundestag bestimmt, andererseits stellt die Partei mit den meisten Stimmen den Nachfolger oder die Nachfolgerin Merkels.
Im Hintergrund geht es in Deutschland auch um die im Grundgesetz (Artikel 20) verankerte Einführung nationaler Volksentscheide. Doch die direktdemokratischen Volksrechte, auf kommunaler Ebene und in den Bundesländern politischer Alltag, sind auf nationaler Ebene stark umstritten. Wir zeigen, wieso das so ist, welche Parteien auf der Bremse stehen und wie eine Volksinitiative die Hauptstadt Berlin aufmischt.
In der gesamten Schweiz sind die zulässigen Renditen aus Mieten an den Referenzzinssatz gekoppelt und begrenzt. Immobilienbesitz soll nicht der raschen Vermögenssteigerung dienen.
Bereits seit 1983 macht es ein Gesetz, die sogenannte Lex Koller, ausländischen Investoren schwer, in der Schweiz Wohnimmobilien oder Bauland zu erwerben. Mit Erfolg: Zwischen 2007 und 2020 stammten nur 16 Prozent dieser Investitionen aus dem Ausland. In Berlin war ihr Anteil doppelt so hoch. Der deutsche Immobilienmarkt ist für globale Investoren offener und lukrativer als der in der Schweiz.
Trotz aller Sorge um bezahlbaren Wohnraum: Ein Ruf nach Enteignungen, wie sie die Berliner Initiative fordert, ist in der Schweiz nicht zu vernehmen. Dabei sind Enteignungen durchaus zulässig, und sie werden auch durchgesetzt. Aber nicht, um günstigen Wohnraum zu schaffen, sondern weil Häuser grossen Infrastrukturprojekten wie Eisenbahnlinien, Strassen oder Stauseen im Weg stehen und Grundstücke dafür gebraucht werden. Hier steht das Interesse der Gemeinschaft über jenem der Privateigentümer.
Professionelle Strukturen und viel ehrenamtliche Zeit
In Berlin haben sich die die sechs Aktiven, die an diesem Tag im Randbezirk Rudow Haustürwahlkampf machen, bewusst Genossenschaftssiedlungen ausgewählt. «Hier wird den Bewohnern erzählt, dass auch ihre Genossenschaften bei einem positiven Volksentscheid enteignet werden sollen. Das ist Unfug», erklärt Chris Koth. Er hat der Initiative geholfen, schlagkräftige Strukturen in den Stadtteilen aufzubauen, und ist seit 2019 dabei.
Britta hat eine Liste mit Hausnummern in der Hand, die es abzuarbeiten gilt. Sie ist Ende 50 und sagt, es falle ihr eigentlich schwer, Menschen anzusprechen. Doch das ist nicht zu erahnen. Zugewandt und routiniert versucht sie ins Gespräch zu kommen. Die Trainings der Kampagne hätten ihr sehr geholfen, sagt sie.
Wo immer sich eine Tür öffnet, werben die Wahlkämpfenden für ihr Anliegen: Wohnen dürfe kein Spekulationsobjekt von Konzernen sein, die hohe Gewinne an Aktionäre auszahlen. Doch das Team bekommt auch Ablehnung und Resignation zu spüren. «Das bringt doch eh alles nichts», murmelt eine alte Frau und schliesst ihre Wohnungstür rasch wieder. Die FFP2-Masken erschweren die Kommunikation. Durch sie dringen die Argumente nur gedämpft zum Gegenüber. Daher bekommt jede und jeder im Haus eine Broschüre und einen Brief mit Argumenten.
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Zwei bis drei Stunden täglich investiert Chris jetzt in der Schlussphase in die Kampagne, erzählt er. Am Anfang sei es noch recht dilettantisch zugegangen, sagt er. «Wir sind heute sehr viel professioneller». Der Gruppe kommt zugute, dass politische Bewegungen in Berlin traditionell stark sind. Sie baut auch auf das Know-how und die Strukturen der Mietendeckel-Kampagne auf, die den Berliner Senat im Februar 2020 dazu brachte, per Gesetz die Berliner Mieten zu begrenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz im in diesem Frühjahr jedoch für ungültig erklärt.
Wahlkampf auf Abstand in Covid-Zeiten
Viele der damals aktiven Gruppen engagieren sich nun erneut für eine Regulierung des Berliner Wohnungsmarktes. Der professionelle Wahlkampf der Kampagne kostet viel Geld. Die Initiative druckt Zeitungen und Broschüren, 10’000 Plakate hängen in allen Bezirken, sie braucht Stände und Material. Die Mittel dafür kommen von zahlreichen Kleinspendern, der Initiative wohlgesonnenen Stiftungen und Crowdfunding-Kampagnen im Internet.
Alle arbeiten ehrenamtlich. Nur eine einzige 450-Euro-Stelle finanziert das Projekt aus Spendengeldern. Auch international seien die Organisatoren vernetzt, sagt Jenny Stupka, bei der Initiative für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Zum Beispiel mit Aktivisten in den USA, die mehr Erfahrung mit Haustürwahlkämpfen und Telefonkampagnen haben, oder auch mit Kampagnen aus Barcelona, wo man mit ähnlichen Problemen kämpft, wie in Berlin.
Erst seit wenigen Wochen treffen sich die Gruppen wieder real. Gottseidank, sagt Britta, sie haben die persönlichen Begegnungen sehr vermisst. Für Abstimmungskämpfe waren die Covid-Beschränkungen Gift. Nicht nur, weil weit weniger Menschen unterwegs waren, die man auf der Strasse hätte ansprechen können. Auch für die Engagierten bedeutete die Pandemie digitale Treffen statt Planungen in echten Gruppen. Das, was politische Bewegungen ausmacht, die Vernetzung mit Gleichgesinnten, blieb virtuell.
Endspurt nach hohen Hürden
Es ist Endspurt für die Enteignungs-Initiative. Dabei liegen hinter den Aktiven bereits einige Jahre Arbeit. Im Juni 2019 wurden 77’000 Stimmen an den Berliner Senat übergeben, der daraufhin die Zulässigkeit des Begehrens prüfte und bestätigte.
Zum Volksentscheid kommt es aber nur, wenn sieben Prozent der Wahlberechtigten dafür unterschreiben. Für diese zweite Hürde brauchte die Kampagne 171’000 Unterschriften, bei 350’000 hörte sie auf zu sammeln – das Ziel war mehr als erfüllt. Am 25. Juni 2021 war damit der Weg zur Volksabstimmung offiziell frei.
Im Erfolgsfall würde das Anliegen jedoch nicht automatisch in einem Gesetz zur Enteignung der Konzerne verankert. Vielmehr stimmt Berlin am 26. September über einen sogenannten Beschlussvolksentscheid ab. Er fordert bei Erfolg den Berliner Senat (Exekutive) auf, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und einen Gesetzgebungsprozess einzuleiten. Verbindlich ist dies nicht. Ein alternativer Weg wäre gewesen, im Rahmen eines sogenannten Gesetzesvolksentscheids über eine konkrete Gesetzesvorlage abstimmen zu lassen.
Doch das birgt Risiken. Bei juristischen Mängeln im Text kann dieser abgelehnt werden und das Thema wäre von der Tagesordnung. Dies ist beim besagten Gesetz über einen Mietendeckel in Berlin geschehen. Das Volksbegehren war erfolgreich, der Senat beschloss, die Miethöhen per Gesetz begrenzen. Doch im April 2021, rund 14 Monate nach dessen Inkrafttreten, kippte dies das Bundesverfassungsgericht. Die Begründung: Berlin sei für das Mietrecht nicht zuständig. Das Risiko einer solchen Schlappe möchte die Initiative nicht eingehen
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