Beziehungen produktiv angehen
Deutschland zeigt heute mehr Interesse für direktdemokratische Entscheide der Schweiz als noch vor fünf Jahren, sagt Tim Guldimann im Gespräch mit swissinfo.ch. Der Schweizer Diplomat ist seit einem halben Jahr Botschafter in Berlin.
Guldimann ist ein Deutschland-Kenner. In den 70er-Jahren war er Forscher am Max-Planck-Institut in Starnberg und promovierte an der Uni Dortmund. Später lehrte er während drei Jahren an der Universität Frankfurt am Main.
swissinfo.ch: Sie sind jetzt sechs Monate im Amt. Was hat Sie in diesen sechs Monaten am meisten beschäftigt?
Tim Guldimann: Die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland produktiv weiter entwickeln lassen, ausgehend von einem verbesserten Klima zwischen beiden Regierungen.
Dieses günstige Klima hat sich zum Beispiel auf die gegenwärtigen Steuerverhandlungen positiv ausgewirkt und bietet Chancen zur Lösung weiterer bilateraler Fragen.
swissinfo.ch: Welche Fragen sind das?
T.G.: Lassen Sie mich vorerst noch anfügen, dass wir im Steuerdossier mit der Unterzeichnung des Doppelbesteuerungs-Abkommens und der Vereinbarung von Steuerverhandlungen einen substantiellen Schritt vorangekommen sind.
Bundesfinanzminister Schäuble ist dafür speziell nach Bern gereist, was als Geste des Respekts gegenüber der Schweiz gewertet werden kann. Es zeigt, wie konstruktiv auch die deutsche Seite die Verhandlungsvorbereitungen vorangebracht hat.
Zu den weiteren offenen Fragen im bilateralen Verhältnis gehören insbesondere der Flughafen Zürich und die Rheintalbahn als nördlicher Zubringer der NEAT, der Neuen Eisenbahn-Alpen-Transversale.
swissinfo.ch: Worin bestehen für Sie weitere Herausforderungen auf Ihrem neuen Posten?
T.G.: Beim Ausbau der Rheintalbahn zwischen Basel und Karlsruhe deuten sich Verzögerungen bei der Fertigstellung an, und es geht darum, sehr früh den Dialog zu suchen, um das Problem lösen zu können. Ich glaube, es ist Aufgabe der Botschaft, diese sehr konkrete Frage aktiv aufzunehmen.
swissinfo.ch: Die Verzögerungen beim Ausbau der Rheintalbahn rühren ja unter anderem von Protesten der Bürger her. Könnte Deutschland in Sachen Bürgerbeteiligung von der Schweiz etwas lernen?
T.G.: Man muss mit so einer These ausserordentlich vorsichtig sein. Tatsächlich haben wir in unserem politischen System Eigenheiten, auf die wir stolz sein können. Das bedeutet aber nicht, dass wir anderen sagen, wie sie es machen sollen.
Wir betrachten es jedoch als unsere Aufgabe, in Deutschland das Verständnis für unsere Eigenheiten zu fördern. Es liegt uns daran, unsere Erfahrungen vorzubringen und zu zeigen, welche Vorteile, aber auch mögliche Probleme es mit direktdemokratischen Entscheiden gibt.
Es gibt in Deutschland ja auch ein grosses Interesse dafür, weshalb wir diesen Teil unseres politischen Systems heute besser vermitteln können als noch vor fünf Jahren.
swissinfo.ch: Das Bild der Schweiz im Ausland ist noch immer geprägt von Bergen, Käse, Schokolade und einem Heile-Welt-Image. Viele Schweizer greifen auf diese Klischees zurück, um sich und ihr Land im Ausland zu präsentieren. Muss die Schweiz heute mehr bieten als Kühe und Alphörner?
T.G.: Klischees zu bedienen, erachte ich als falsch. Es ist wichtig, dass die Schweiz als das Land wahrgenommen wird, das es ist: ein mittelgrosses, hochtechnologisches Land in Europa, das mit der Europäischen Union wirtschaftlich stark verflochten ist.
Es muss auch zur Kenntnis genommen werden, dass wir unseren Beitrag zu gemeinsamen europäischen Anliegen solidarisch leisten.
Ein Beispiel hierfür ist die NEAT als Beitrag zu einem europäischen Hochleistungsschienennetz, was nach dem Gotthard-Durchstich Mitte Oktober ja auch sehr breit und sehr positiv in den deutschen Medien aufgenommen wurde. Da ging es nicht um Klischees. Da ging es um einen Tunnel, eine High-Tech-Erfolgsgeschichte.
swissinfo.ch: Verschiedentlich haben Sie gesagt, die Deutschschweiz sei ein Teil der deutschen Kultur.
T.G.: Die Frage ist, worauf sich das Adjektiv «deutsch» bezieht. Gottfried Keller sagte – wie später auch Peter Bichsel -, er sei deutscher Dichter und schweizerischer Staatsbürger. Er bezog das Adjektiv nicht auf Deutschland als politisches Gebilde, sondern auf den letztlich sprachlich geprägten deutschen Kulturkreis, der auch die Deutschschweiz umfasst.
Ebenso gehören die französische und die italienische Schweiz zum französischen respektive italienischen Kulturkreis.
Deshalb müssen wir differenzieren zwischen dieser Zugehörigkeit – und in diesem Sinn könnte man auch von der deutschen Kultur sprechen – und einem klaren Unterschied in der politischen Kultur der beiden Länder.
swissinfo.ch: Zum Beispiel?
T.G.: Sie betreffen zum Beispiel das Verständnis zwischen Bürgern und Staat. Der Staat ist für uns ein Dienstleister für die Bürger. Das zeigt sich im Steuerrecht, aber auch an den Kompetenzen der Kantone im Vergleich zu deutschen Bundesländern.
Die Tatsache, dass in Deutschland Gemeinden gegen ihren Willen, aber absolut legal, zusammengelegt werden sollen, ist im schweizerischen politischen Verständnis nicht denkbar.
Ich sage nicht, dass dies schlecht ist, sondern nur, dass dies eine andere politische Kultur ist.
swissinfo.ch: Was bedeutet die kulturelle Gemeinsamkeit beider Länder?
T.G.: Wenn man ein Satellitenbild macht vom schweizerisch-süddeutschen Raum, sieht man ein Cluster hochentwickelter Industrieregionen. Landesgrenzen findet man keine. Ich hoffe, dass es gelingt, die Gemeinsamkeit in unseren historischen Wurzeln im alemannischen Raum stärker zu verstehen, um unsere Beziehungen insbesondere zu Süddeutschland noch stärker zu entwickeln.
Der Diplomat und Politikwissenschafter Tim Guldimann ist seit Mai 2010 Schweizer Botschafter in Berlin. Er ist 1950 in Zürich geboren. 1982 trat er in den Dienst des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein.
In der Vergangenheit war er unter anderem Leiter der OSZE-Missionen in Tschetschenien (1996), Kroatien (1997) und in Kosovo (2007-08) sowie Schweizer Botschafter in Iran und Afghanistan (1999-2004). Die Schweiz vertritt hier auch die Interessen der USA, die seit 1979 keine diplomatischen Kontakte mit Iran unterhalten.
Auch Deutschland kennt der international bekannte Diplomat und Islamexperte schon gut. Von 1976 bis 79 forschte er am Max-Planck-Institut in Starnberg.
1979 promovierte er an der Uni Dortmund. Von Ende 2004 bis Ende 2007 lehrte er an der Universität Frankfurt am Main. Im Jahr 2006 verlieh ihm der Berliner Senat den Moses-Mendelssohn-Preis für die Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern.
Guldimann ist mit einer Deutschen verheiratet.
Berlin
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