«Beziehungen zwischen Schweiz und Ukraine intensivieren»
Guillaume Scheurer ist seit einigen Monaten Schweizer Botschafter in der Ukraine. Er sprach mit swissinfo.ch über den Krieg, die Zusammenarbeit sowie Schwierigkeiten und Hoffnungen einer "sehr alten Nation", die gleichzeitig ein "junges Land mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung" ist.
Wir treffen ihn gleich zwei Mal am gleichen Tag in Kiew: Am Morgen nimmt Guillaume Scheurer an einer Zeremonie zur Übergabe von Wohnmodulen teil, die von der Schweiz für die Beobachtungsmission der OSZEExterner Link im Krisengebiet der Ostukraine gespendet wurden. Und am Abend ist er an einer Foto-Vernissage des jungen Schweizer Fotojournalisten Niels Ackermann zugegen. Ackermann hat die Jugend von Slavoutych porträtiert, die so genannten «Kinder von Tschernobyl».
Hier erzählt uns Guillaume Scheurer von den Herausforderungen seines Postens, den er im November 2015 übernommen hat. Der ehemalige OSZE-Mitarbeiter spricht offen über Politik, Krieg und die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz in der Ukraine.
swissinfo.ch: Haben Sie die umkämpfte Region Donbass besucht, oder hindert Sie die Sicherheitslage daran?
G.S.: Im Moment ist keine solche Reise vorgesehen. Grundsätzlich gibt es keine Hinderungsgründe, Donbass zu besuchen. Im konkreten Fall müsste man die Sicherheitslage überprüfen. Da es sich um ein Gebiet handelt, das nicht unter der Kontrolle von Kiew ist, müsste man eine Erlaubnis der ukrainischen Regierung einholen.
swissinfo.ch: Gehört die Krim zur Ukraine?
G.S.: Ja. Bereits 2014, als Didier Burkhalter Bundespräsident war, wurde eine sehr klare Erklärung für die Nichtanerkennung dieser als illegal betrachteten Annexion gemacht.
swissinfo.ch: Heute haben Sie Wohnmodule für die OSZE-Beobachtermission präsentiert, die in der Konfliktzone in der Ostukraine stationiert ist. Die Schweiz engagiert sich stark für eine Lösung dieses Konflikts, warum?
G.S.: Die Schweiz verfügt über grosses Know-How im Bereich der Mediation. Nicht zuletzt wegen ihrer Präsidentschaft der OSZE konnte die Schweiz nicht gleichgültig gegenüber diesem Konflikt im Herzen Europas bleiben. Sie möchte zu einer friedlichen Lösung beitragen, und kann das auch. Wir machen das über die Institutionen, die wir präsidieren – die OSZE, mit Heidi Tagliavini als Mitglied der trilateralen Arbeitsgruppe [die diesen Posten 2015 verlassen hat, Anm.d.Red.], mit Alexander Hug, Stellvertretender OSZE-Chef-Beobachter in der Ukraine, und 13 Schweizer Tutoren auf dem Gebiet der Ukraine, auch in den Konfliktherden. Und auch mit dem Botschafter Toni Frisch als Koordinator der humanitären Gruppe des Protokolls von Minsk. Unser Engagement ist konstant und zielt aktiv in Richtung eines Friedensabkommens.
swissinfo.ch: Letztes Jahr haben die Schweiz und Russland 200 Jahre diplomatische Beziehungen gefeiert. Die Festivitäten drehten sich vor allem um Kulturelles, weil die politischen Beziehungen zurzeit nicht so einfach sind…
G.S.: Ich möchte die Beziehungen zu Russland nicht beurteilen. Was uns betrifft, haben wir sehr gute Beziehungen zur UkraineExterner Link. Die bilateralen Aktivitäten, sowohl auf politischer als auch wirtschaftlicher und kultureller Ebene, sind intensiv. Nächstes Jahr feiern wir das 25-Jahr-Jubiläum unserer diplomatischen Beziehungen.
Ich stelle auch fest, dass es einen grossen nichtstaatlichen Austausch gibt: persönliche Kontakte, wie die Arbeit von Niels Ackermann oder jene des Chefs des Musikorchesters Silvio Wyler. Es gibt auch viel humanitäres Engagement von Privatpersonen wegen der traurigen Ereignisse in den letzten beiden Jahren. Die humanitäre Situation hier ist kompliziert.
swissinfo.ch: Deswegen haben mehrere Schweizer Hilfsorganisationen ihre Unterstützung angeboten…
G.S.: Absolut! Das kommt auf eine spontane Art, sie organisieren sich nach Region und Organisation, und das ist für die Botschaft wunderbar, weil es eine aussergewöhnliche Visitenkarte ist, welche die Schweizer Solidarität und Hilfsbereitschaft wiederspiegelt. Die Schweizer Hilfsorganisationen sind sehr grosszügig und helfen auf breiter Ebene, vor allem in Städten wie Soumy, Odessa und weiteren. In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass die «Humanitäre Hilfe der Schweiz» die einzige staatliche Institution ist, die auf beiden Seiten des Konflikts Hilfe leistet.
Guillaume Scheurer
Guillaume Scheurer ist seit Dezember 2015 Schweizer Botschafter für die Ukraine und Moldawien, mit Wohnsitz in Kiew. Davor war er drei Jahre lang erster Mitarbeiter des Chefs der Schweizer Delegation bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Davor war er in Südafrika und Iran stationiert, zwischen 2009 und 2013 in Washington, wo er stellvertretender Leiter der Mission war. Guillaume Scheurer hat an der Universität Neuenburg Rechtswissenschaften studiert und am Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung in Genf ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit gemacht. Er ist Artillerieoffizier in der Schweizer Armee. Scheurer ist verheiratet und hat einen Sohn.
swissinfo.ch: Die Schweiz vertritt auch die diplomatischen Interessen von Georgien in Moskau sowie jene Russlands in Tbilissi. Wäre eine solche Lösung auch im Falle eines Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine denkbar?
G.S.: In der Politik sollte man nie theoretische Mutmassungen machen. Aber grundsätzlich steht die Schweiz immer zur Verfügung, wenn ein Land diplomatische Vertretung braucht, wie jene die Sie erwähnten oder jene zwischen Iran und den USA. Es ist eine Möglichkeit, welche die Schweiz anbietet, wenn die Umstände es erfordern und die Parteien Interesse bekunden. Hier hat sich die Frage noch nicht konkret gestellt.
swissinfo.ch: Seit zwei Jahren herrscht in diesem Land Krieg. Spüren Sie das?
G.S.: Im Alltagsleben von Kiew spürt man den Krieg kaum, aber er ist dennoch sehr präsent. Es ist ein fortwährendes Trauma, der Waffenstillstand wird täglich gebrochen, und fast jeden Tag gibt es Tote und Verletzte.
swissinfo.ch: Wenn Sie am Platz der Unabhängigkeit, genannt Maidan-Platz, in Kiew vorbeikommen und die Kerzen und Fotos in Erinnerung an die Toten sehen, was fühlen Sie?
G.S.: Die Ereignisse von Maidan habe ich nicht direkt miterlebt. Ich war damals in Wien. Ich habe sie wie alle Europäer am Fernsehen mitverfolgt. Es war eine Tragödie, die Leute wurden getötet. Auf dem Maidan-Platz und den angrenzenden Strassen haben sich Menschen für ihre Werte geopfert: Freiheit, Menschenrechte und Demokratie. Wenn ich dorthin gehe, packt mich eine sehr starke Emotion.
swissinfo.ch: Die Schweiz erhielt eine Welle der Sympathie von den Ukrainern, als sie 2014 die Gelder des Sohns des Präsidenten Viktor Ianoukovytch blockierte. Wie wird die Schweiz aktuell von den Ukrainern wahrgenommen?
G.S.: Zwischen unseren beiden Ländern gibt es Tourismus, Austausch, Handel, mehr als 80 Schweizer Firmen arbeiten auf dem ukrainischen Markt. Wir gehören zu den 10 wichtigsten ausländischen Investoren hier. Die Möglichkeiten in der Ukraine sind enorm. Und die Schweiz hat traditionell das Image eines zauberhaften Landes mit Bergen, Kunst, Reichtum, Schokolade, Uhren und guter Qualität.
Während seiner Präsidentschaft der OSZE im Jahr 2014 ist Bundespräsident Burkhalter regelmässig hierhergekommen, er war beispielsweise bei der Zeremonie zur Amtseinführung des Präsidenten Poroschenko anwesend, und das hat die Sympathie gegenüber der Schweiz nochmals erhöht.
Wir arbeiten weiterhin daran, die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Ukraine zu intensivieren, und ich bin überzeugt, dass sich das Potenzial in den nächsten Jahren vollkommen verwirklichen wird.
Schweizer Engagement in der Ukraine
Die Schweiz baut ihre Unterstützung für die UkraineExterner Link aus und leistet im Zeitraum 2015–2018 einen Beitrag von rund 100 Millionen CHF.
2015 hat die DEZA Humanitäre Hilfe sechs Hilfskonvois organisiert, die 1240 Tonnen medizinisches Material und chemische Produkte für die Wasseraufbereitung in die von der Regierung kontrollierten Gebiete und in die Grenzzonen geliefert haben.
Mit ihren Tätigkeiten unterstützt die Schweiz die Ukraine bei der Lösung des Konflikts und dem Aufbau eines demokratischen Staates. Die Schweiz versucht, Versöhnung, Frieden und Entwicklung zu fördern.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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