Algeriens Zukunftsmusik spielt auch in einem Genfer Spital
Der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika, von seiner Gesundheit stark gezeichnet, wird in Genf behandelt, während seine Landsleute seit einer Woche gegen eine "fünfte Amtszeit der Schande" demonstrieren.
Ein mysteriöser Nebelschleier umgibt Abdelaziz Bouteflikas Präsenz in Genf. Laut der offiziellen algerischen Nachrichtenagentur befindet sich der algerische Präsident derzeit für einen «kurzen» Aufenthalt in der Schweiz, um «seine periodischen medizinischen Kontrollen durchzuführen», wie er dies seit sechs Jahren regelmässig tut.
Mehrere Schweizer Medien berichten, dass Bouteflika in der Privatabteilung des Universitätsspitals GenfExterner Link (HUG) behandelt werde. Einzige bestätigte Information: Das algerische Präsidentenflugzeug landete am Sonntagabend um 20:14 Uhr auf dem Flughafen Cointrin und ist seitdem nicht mehr abgeflogen.
A dictator's plane landed in #GVAExterner Link airport: 7T-VPM used by the government of Algeria (Gulfstream IV) on 2019/02/24 at 20:14:29
— GVA Dictator Alert (@GVA_Watcher) 24 février 2019Externer Link
Die algerische Präsidentschaft veröffentlichte keinen medizinischen Bericht, und das HUG, das sich hinter dem Arztgeheimnis versteckt, weigert sich, die Nachricht zu bestätigen.
«Sollte er im HUG sein, würde dies bedeuten, dass sein Gesundheitszustand wirklich problematisch ist», sagte Hasni Abidi, Direktor des Zentrums für Studien und Forschung über die arabische und mediterrane Welt, am Donnerstag gegenüber der Westschweizer Zeitung Le TempsExterner Link. Denn seine ihn normalerweise behandelnden Ärzte arbeiten in der Clinique de Genolier, spezialisiert auf Onkologie, die sich in der Nähe von Genf befindet.
Der 82-jährige Bouteflika ist seit 1999 im Amt. 2013 erlitt er einen schweren Schlaganfall. Seither ist er kaum mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten und kann nicht direkt zu den Algeriern sprechen, was zu den wildesten Gerüchten über seinen Gesundheitszustand führte. Der Präsident ist derart geschwächt und körperlich abwesend, dass er durch sein Porträt repräsentiert wird, vor dem sich seine Besucher verbeugen sollen.
«Durch die Ablehnung dieser Kandidatur – die gelinde gesagt absurd ist – wird das gesamte bestehende politische System aufgefordert, zu gehen und durch eine neue demokratische Ordnung ersetzt zu werden.»
El Watan, algerische Tageszeitung
Doch Bouteflika muss bis spätestens Sonntag, 3. März, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen vom 18. April einreichen. Theoretisch muss das Dossier durch den Kandidaten persönlich eingereicht werden, der auch aufgefordert wird, sich dazu zu äussern. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2014 hatte Bouteflika nur einige wenige, kaum hörbare Worte gesagt. Was den Verfassungsrat allerdings nicht daran hinderte, seine Kandidatur zu bestätigen.
Fünf Jahre später ist die Situation jedoch ganz anders. Seit einer Woche protestieren Tausende von Menschen in Grossstädten im ganzen Land gegen die Aussicht auf eine Wiederwahl ihres Präsidenten für eine fünfte Amtszeit. Es ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass Bouteflika mit einer solchen Revolte konfrontiert wird.
«Friedlicher Aufstand»
«Der Protest breitet sich aus, befreit bisher unterworfene Gebiete und nimmt die Form eines friedlichen Aufstands an, entschlossen, das Szenario einer fünften Amtszeit des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika zu durchbrechen», schreibt die französischsprachige algerische Tageszeitung El WatanExterner Link. «Und durch die Ablehnung dieser Kandidatur – die gelinde gesagt absurd ist – wird das gesamte bestehende politische System aufgefordert, zu gehen und durch eine neue demokratische Ordnung ersetzt zu werden.»
Doch weshalb will dieser alte Mann, der bei so schlechter Gesundheit sein soll, um jeden Preis an der Macht bleiben? Bouteflika ist eine Figur der algerischen Unabhängigkeit (1962) und garantierte Stabilität nach dem schwarzen Jahrzehnt des islamistischen Terrorismus (1991-2002).
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Dank des Anstiegs der Ölpreise konnte er seinen Einfluss auf das Land festigen: Zwischen 2002 und 2013 erzielte Algerien dank des schwarzen Goldes fast 1000 Milliarden Dollar an Einnahmen. Davon profitierten Korruptionsnetzwerke, die aus militärischen Führungspersonen und ihren Geschäftspartnern bestehen.
«Diese Führerfiguren und ihre zivilen Geschäftsleute, die sich zu Interessengruppen zusammengeschlossen haben, halten Bouteflika gegen alle Widerstände an der Macht, um ihren Zugang zu einer Rente zu behalten. Auch wenn es weniger wird, bleibt diese eine Quelle der massiven und kontinuierlichen Bereicherung», sagt Omar Benderra von der Menschenrechts-Organisation Algeria-WatchExterner Link.
Ein Ersatzkandidat?
Laut dem ehemaligen Minister Ali Benaouri, der in Genf lebt, finden gegenwärtig sogar in der Schweiz geheime Gespräche statt, um einen Ersatzkandidaten für den Präsidenten zu finden, von dem einige sagen, dass er im Sterben liegt.
«Angesichts dieser beispiellosen Revolte gegen die Macht denke ich, dass Bouteflika selbst in seinen seltenen klaren Momenten keine klägliche fünfte Amtszeit will. Es ist zu demütigend für ihn», sagte Benaouri gegenüber der französischen Tageszeitung Le PointExterner Link.
Bleibt abzuwarten, ob ein möglicher Ersatzkandidat für Bouteflika die Wut auf Algeriens Strassen abkühlen kann. Nichts ist weniger sicher. Für heute Freitag wird eine neue Welle von Protesten in Algier und in den Provinzstädten erwartet – und am Wochenende in den wichtigsten europäischen Hauptstädten.
Die Autokraten und die Genfer Kliniken
Abdelaziz Bouteflika ist nicht der einzige Staatschef, der von der Qualität und Diskretion der Genfer Gesundheitsdienste profitiert.
Fahd bin Abdelaziz Al Saud, König von Saudi-Arabien von 1982 bis zu seinem Tod 2005, wurde 2002 am Genfer Universitätsspital operiert.
Paul Biya, Präsident Kameruns, ist ein Liebhaber Genfs und dessen Paläste und Stammkunde der lokalen Privatkliniken. Die Gesundheitsakte des 86-jährigen Autokraten, der Kamerun seit 1982 regiert, ist ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, wie die Tribune de Genève betont.
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sieht in den Besuchen in Genf, die für die Schweiz mit Image-Risiken verbunden sind, keinen Handlungsbedarf.
«Ausländische Staatschefs können sich – in privater Funktion – in der Schweiz aufhalten, ohne dass die Bundesbehörden formell informiert oder in den Besuch einbezogen werden», sagte kürzlich ein EDA-Sprecher gegenüber swissinfo.ch.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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