Wie Schweizer in London versuchen, den Brexit zu überleben
Bei der neuerlichen Abstimmung im britischen Parlament am Dienstag über das Scheidungsabkommen mit der EU geht es für Premierministerin Theresa May ums politische Überleben. Oder gibt noch eine neuerliche Wende? Schweizerinnen und Schweizer, die in London arbeiten, beobachten das Brexit-Chaos auf der Insel mit Bestürzung.
Olivia Tattarletti tut sich schwer mit dem Resultat der Abstimmung vom 23. Juni 2016, als sich 51,9% der Abstimmenden für den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union (EU) ausgesprochen hatten.
«Ich habe versucht, diese vergangenen zwei Jahre nicht allzu viel darüber nachzudenken, um nicht angesteckt zu werden von der mit dem Brexit verbundenen Negativität», erklärt die Freiburgerin in den Büroräumen ihrer Anwaltskanzlei in Camden Town, im Norden Londons.
«Deprimierend»
«Da ich selber im Umweltrecht, meinem Spezialgebiet, vom Beitritt des Vereinigten Königreichs zur EU profitiert habe, war das Ja zum Brexit natürlich ärgerlich und deprimierend».
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Mein Kampf gegen den Brexit – und was ich daraus lernte
Um sich nicht zu sehr demoralisieren zu lassen, beschloss Tattarletti, sich nicht allzu sehr in diese Angelegenheit zu vertiefen. Denn diese seien im Grunde genommen ja eigentlich nur eine Angelegenheit zwischen den Untertanen Ihrer Majestät und der EU resp. deren Bürger auf der Insel.
Was denken einzelne der insgesamt fast 35’000 Schweizer und Schweizerinnen, die heute in Grossbritannien leben? Wie sehen sie dem Brexit entgegen? Welche Auswirkungen der Scheidung befürchten sie?
Wir haben zwei Mitglieder der Schweizer Community in Grossbritannien, die seit langer Zeit in London leben und arbeiten, getroffen: Die Freiburgerin Olivia Tattarletti, eine Anwältin, sowie Sam Fankhauser. Der aus Bern stammende schweizerisch-britische Doppelbürger ist Experte für Klimaerwärmung und lehrt und forscht an der London School of EconomicsExterner Link.
Das Chaos, das nicht mehr aus dem Kopf will
Die Juristin Tattarletti wollte zwar den Brexit aus ihrem Kopf vertreiben. Aber die Gedanken daran tauchten hartnäckig immer wieder auf. «Ich wollte mich auf meine Arbeit konzentrieren – vergeblich», räumt sie ein. Ihr persönliches Engagement: Sie unterzeichnete Petitionen, die eine neue Brexit-Abstimmung auf der britischen Insel fordern.
«Aber was ich auch tue, die Frage eines allfälligen Visumantrags, damit ich weiter in London arbeiten kann, könnte sich stellen. Wäre meine Anwaltspraxis gewillt, sich darum zu kümmern? Ich war nicht dazu bereit, mich selber zu engagieren, um unter allen Umständen hier bleiben zu können.»
Mit einem Augenzwinkern sagt die 31 Jahre alte Freiburgerin, das Gehirn einer Anwältin sei vielleicht eher als ein anderes daran gewöhnt, Risiko-Wahrscheinlichkeiten zu berechnen.
Eingeschlagen wie ein Blitz
Doch in ihrem Umfeld schlug der Brexit ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel, während ihre Kollegen, grösstenteils Briten, sich Tag für Tag mit belastenden Dossiers über Verletzungen der Menschenrechte in der Welt befassen. «Wir hatten gar nicht genug Zeit, um auch über den Brexit und die möglichen Folgen zu sprechen.»
Am vergangenen 19. Dezember sorgte die Schweizer Regierung bei der Schweizer Community in Grossbritannien zwar immerhin für Erleichterung: Ein mit der Regierung May erzieltes Abkommen sichert das Aufenthaltsrecht von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern auf der Insel nachhaltig. Dennoch sind die dortigen Auslandschweizer weiterhin ernsthaft besorgt, was ihre berufliche Zukunft im Land angeht.
Unwirklicher Alltag
Im Zentrum der Londoner City, wo Olivia Tattarletti ihr juristisches Rüstzeug erworben hatte, bevor sie nach Camden umzog, ist die Atmosphäre auch zu Beginn des neuen Jahres düster: Auf dem Arbeitsmarkt herrscht Unsicherheit, was sich in einem Rückgang der Stellenangebote niederschlägt. Die Situation bleibt durch das Brexit-Chaos blockiert und verzögert wichtige Entscheidungen.
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«Brexit-Abstimmung war nicht direkte Demokratie, sondern Unfug»
«Viele Versicherungen, Banken und Wirtschaftskanzleien haben schon Massnahmen ergriffen, um einen Teil ihrer Tätigkeiten und Operationen weiterhin in der Europäischen Union abzuwickeln. Aber niemand hängt dies an die grosse Glocke. Man hat daher den Eindruck, in einem permanenten Status quo zu leben, währen die Realität eine ganz andere ist», sagt die Freiburgerin.
Die Wirtschaftsexpertin erklärt, dass sich der durch die Brexit-Entwicklung verursachte Einkommensverlust negativ auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) sowie die Sozialleistungen Grossbritanniens auswirken werde. Ganz zu schweigen von den niedrigeren Steuereinnahmen.
Olivia Tattarletti sagt zudem Folgendes über die britische Psyche: «Der Brexit erinnert mich daran, dass die Inselmentalität und die imperialistische Mentalität hier noch immer relevant sind. Das zeigt sich etwa in der Art zu erklären, dass man allein klarkommen werde. Wie man dies in der Vergangenheit bewiesen hatte, als das britische Imperium die Welt beherrscht hatte.» Es ist dies ein nostalgischer Rückgriff auf ein England, das an vergangener Grösse festhält und sich am Zeitalter von Queen Viktoria und der damaligen Handelshäuser berauscht.
Verhängnisvoller Demokratie-Dilettantismus
Als Freiburgerin, die mit dem Schweizer Initiativ- und Referendumsrecht aufgewachsen ist, ist sie auch heute noch fassungslos, was die «verpfuschte» Organisation der Brexit-Abstimmung vor zweieinhalb Jahren angeht.
«Diese Abstimmung war sehr wenig und sehr schlecht vorbereitet. Nichts war getan worden, um den Menschen die tatsächliche Bedeutung des Plebiszits klar zu machen. Ganz zu schweigen davon, dass die englische Verfassung – wie das britisches Recht insgesamt – nicht kodifiziert ist, die Regeln für eine Abstimmung also nicht definiert waren».
Auch für Sam Fankhauser, Professor für Klimaforschung an der renommierten Elite-Universität London School of Economics, ist dieser an den Tag gelegten Dilettantismus unfassbar.
Der Kontrast zur Schweiz im Umgang mit dieser entscheidenden Phase für eine politische Entscheidung sei «erstaunlich» gewesen, sagt er mit anfänglicher Zurückhaltung. Doch dann spricht er Klartext: «Es ist schockierend zu sehen, wie der Zusammenhalt und der gesunde Menschenverstand in Grossbritannien heute zerfallen. Halb England ist bereits heute wütend und sogar entfremdet und wird es morgen noch viel mehr sein», sagt Fankhauser.
Schier unüberwindbare Gräben
Gegenwärtig sieht er auf keiner Seite die erforderlichen Fähigkeiten, diese Abkoppelung, Wut und Enttäuschung zu überwinden. Weder bei der Regierung von Premierministerin Theresa May, die am Dienstag mit der zweiten Abstimmung über den Brexit-Vertrag zum Ausstieg Grossbritanniens aus der EU im Parlament in Westminister vor der Überlebensfrage steht.
Und auch nicht bei der linken Labour-Opposition, verkörpert durch Jeremy Corbyn. «Es ist schwer vorstellbar, wie sich das Land erholen können soll», erklärt der Klimaexperte.
Braindrain
In den akademischen Kreisen, in denen sich Sam Fankhauser bewegt, gehört die Mehrheit dem «Remain»-LagerExterner Link an – sie sind also gegen den Brexit. Das gilt für seine englischen Kollegen genauso wie für die Lehrkräfte, die wie er aus dem Ausland stammen. «Wir alle befürchten in der Zukunft Hindernisse, zum Beispiel bei der Suche nach Forschungsgeldern und Stipendien oder beim Austausch von Lehrkräften und Studierenden mit der EU.»
Auch der Zugang von Forschenden aus dem Ausland zu britischen Hochschulen könnte komplizierter werden, befürchtet Fankhauser. Es drohe eine Kaskade von Komplikationen bei künftigen Behördengängen. Gerade etwa, wenn es um eine Aufenthaltsbewilligung geht.
«In den sozialen Netzwerken wimmelt es nur so von Anekdoten von Europäern, die frustriert sind wegen diesem Verfahren», erzählt er. Bereits hätten die ersten aufgegeben. «Zwei Kollegen sind jüngst wegen des Brexit in ihr Land zurückgekehrt, obschon sie viele Jahre an der London School of Economics gelehrt hatten», bedauert er.
Für Sam Fankhauser, seit 13 Jahren schweizerischer-britischer Doppelbürger, ist klar, wo sein Leben weitergeht: Trotz allem Chaos will er in Grossbritannien bleiben. Hier an der Themse hat sich hier eingerichtet, hier ist in Zuhause.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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