«Öko-Totalitarismus ist eine Gefahr in Bezug auf den Klimawandel»
Der Politikwissenschaftler Rikki Dean hat zu Klimaversammlungen geforscht. Mit diesen Bürgerpanels alleine bewältigen Demokratien die Klimaerwärmung seiner Meinung nach kaum.
SWI swissinfo.ch: Rikki Dean, an den Aarauer Demokratietagen werden Sie über das Thema «Weniger oder mehr Demokratie beim Klimaschutz» diskutieren. Gibt es ein Argument für weniger Demokratie?
Rikki Dean: Meiner Meinung nach gibt es kein gutes Argument für weniger Demokratie, doch ist Öko-Totalitarismus eine Gefahr in Bezug auf den Klimawandel. Selbst demokratische Länder setzen in einer Notsituation oft die normalen demokratischen Prozesse aus. Wir haben das bei der Pandemie erlebt.
China ist ein Modell für ein nicht-demokratisches System, das manche Leute attraktiv finden. Die Frage stellt sich also wirklich: Werden wir unsere Emissionen im Rahmen unserer Demokratien reduzieren, oder wird die Politik in Europa eine autoritärere Richtung einschlagen? Darum ist es wichtig, nachzudenken, wie wir die Klimapolitik aus einer demokratischen Perspektive verbessern können.
Gehen denn autoritäre Länder mit dem Klimawandel besser um?
Nein, definitiv nicht. Aber unsere repräsentativen Institutionen versagen bei seiner Bewältigung. Die Parteien machen immer noch Wahlkampf auf der Basis, dass gutes Regieren bedeutet, für Wirtschaftswachstum zu sorgen, und dass Konsum endlos wachsen kann – obwohl wir wissen, dass Wachstum die Umwelt zerstört.
Die repräsentative Politik hat sich der grossen wirtschaftspolitischen Herausforderung der kommenden Jahre nicht gestellt: Wie schaffen wir die demokratische Legitimation für eine Lebensweise, die die ökologischen Grenzen respektiert?
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Wo China demokratische Elemente nutzt
Einige hoffen dabei auf Bürgerpanels. Sie forschen zu diesen partizipativen demokratischen Instrumenten. Warum ist um diese so ein Hype entstanden?
In Europa interpretierte man die Ergebnisse des irischen VerfassungskonventsExterner Link auf eine Weise, die den Hype lostrat. Das Bürgerpanel in Irland empfahl die Homo-Ehe und ein liberales Abtreibungsgesetz. In einem Referendum stimmte dann die Mehrheit im Sinne des Bürgerpanels. Dieses progressive Resultat in einem mehrheitlich katholischen Land fiel in dieselbe Zeit wie Donald Trump und der Brexit. Das hat viele inspiriert. So wurden deliberative Panels zur neuen Hoffnung im Umgang mit der Polarisierung.
Doch: Eine grosse Minderheit stimmte auch gegen die Liberalisierungen.
Wahrscheinlicher als eine Veränderung der Mehrheitsmeinung wegen dem Bürgerpanel ist, dass sich die Meinung der Mehrheit bereits geändert hatte. Die Parteien hatten ihre Haltung nur deshalb nicht geändert, weil es immer noch einen grossen Block konservativer, religiöser Wähler:innen gibt, deren Stimmen sie nicht verlieren wollten. Die Versammlung und das Referendum haben es geschafft, die Blockade des politischen Systems zu lösen und das Gesetz im Einklang mit der Mehrheitsmeinung zu aktualisieren. Das ist ein Nutzen.
Aber es ist nicht, was Bürgerpanels so populär gemacht hat: Sie werden als Lösung für die grossen Probleme der repräsentativen Politik, wie Populismus und Polarisierung, gesehen.
Sie haben an einer StudieExterner Link mitgewirkt, die die ersten sechs nationalen Klimaversammlungen in Frankreich, Deutschland, Grossbritannien, Schottland, Irland und Dänemark verglich. Welche Erkenntnisse erlangten Sie dabei?
Wir haben die Vorstellung davon in Frage gestellt, was als erfolgreiche Wirkung eines Bürgerpanels betrachtet wird. Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass Panels nur erfolgreich sind, wenn die Ergebnisse die Politik direkt ändern.
Dies wäre auch mein erster Impuls.
Es scheint logisch. Aber diese Betrachtung basiert auf einer Fantasieidee von Politik. Administration und Politikgestaltung sind langatmige, komplexe Prozesse, auf die verschiedene Interessengruppen Einfluss haben. Eine einzige Veranstaltung zu organisieren, deren Empfehlungen alles verändern – das ist nicht, wie Politik funktioniert. Wir müssen im Bezug auf die Wirkung von Bürgerpanels realistisch werden.
Die sechs nationalen Klimaversammlungen waren auf sehr unterschiedliche Weise ins Politsystem integriert. Die dänische Versammlung zum Beispiel wurde von einem Ministerium organisiert und unterscheidet sich nicht besonders von einem üblichen Konsultationsprozess. Es ist seltsam, sie anders als solche zu behandeln. Wir haben sonst nicht die Erwartung, dass Konsultationen die öffentliche Debatte verändern; wir denken nicht, dass sie versagen, wenn sie es nicht tun.
Die deutsche Klimaversammlung hingegen wurde nicht von der Regierung, sondern von der Zivilgesellschaft organisiert. Es ist unvernünftig zu erwarten, dass Initiativen der Zivilgesellschaft einen grossen Einfluss auf die Linie der Regierung haben.
In der Schweiz hat Extinction Rebellion Bürgerpanels gefordert. Warum fordern Aktivist:innen partizipative Debatten?
Offensichtlich hat Extinction Rebellion bereits eine klare Vorstellung, wie die Klimapolitik aussehen soll. Warum also will diese Gruppe ein Bürgerpanel organisieren? Selbst, wenn sie mir vielleicht widersprechen würde: Ich denke, es ist ein Versuch, die Politik zu verändern. Wenn Sie Extinction Rebellion sind und für eine klare Richtung in der Klimapolitik eintreten, kann die Regierung Sie mit dem Argument abtun, Sie seien eine radikale Minderheit und sprechen nicht für die Öffentlichkeit.
Wenn Sie aber eine Versammlung zufällig ausgewählter Bürger:innen organisieren, die dasselbe fordert wie Sie, ist es für die Institutionen schwieriger zu argumentieren, dass die Öffentlichkeit Ihre Ziele niemals unterstützen würde.
Das klingt nun eher nach Politkampagne als nach demokratischer Innovation.
Es ist interessant. Ist dies ein akzeptabler Einsatz von Bürgerversammlungen? Den Teilnehmenden wird nicht gesagt: Kommt, gebt euer Urteil und wir werden damit Kampagne machen. Aber in Regierungen werden solche Panels kaum anders verwendet. Wir übersehen das nur, weil wir davon ausgehen, dass die Regierung eine einheitliche Meinung hat. Regierungen sind jedoch voller Menschen, die unterschiedlicher Meinung sind.
Wahrscheinlich ist zumindest ein Teil der Motivation hinter einigen Bürgerpanels, innerhalb von Institutionen politische Kämpfe zu gewinnen. Es gibt Hinweise darauf, dass Ämter und Politiker:innen sie auf diese Weise nutzen. Wenn solche Versammlungen Legitimität für ein Handeln erzeugen können, ist das eine durchaus nützliche Funktion. Aber es ist falsch so zu tun, als würde einzig die Kraft des besseren Arguments Gesetze und Politik bestimmen.
Das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) führt die Aarauer Demokratietage 2023 zum 15. Mal durch.
Das – trotz des Namens – eintägige Programm am 30. März 2023 steht im Zeichen des Themas «Klimakrise und Demokratie». So wird etwa die Rechtsprofessorin Helen Keller einen Vortrag über «Gerichte und die Klimakrise» halten.
Über «Weniger Demokratie oder mehr Demokratie beim Klimaschutz?» diskutieren Assistenzprofessorin Hannah Werner vom ZDA, Andri Heimann vom ZDA, Karin Ingold, Professorin für Umweltpolitik an der Universität Bern und Rikki Dean.
Doch manche Engagierte sind wirklich der Meinung, dass die Klimaerwärmung zu komplex für unsere politischen Systeme ist, und dass Bürgerpanels da eine Chance sind. Gibt es für diese Hoffnung keine Grundlage?
Beim Einsatz von Bürgerpanels zu Grundsatzfragen bin ich skeptisch. Meiner Meinung nach gibt es da zwei Probleme: Die Stärke eines Panels ist, dass sich die Teilnehmenden intensiv mit einem Thema beschäftigen. Aber je länger die Liste der Themen, desto weniger Zeit bleibt für jedes einzelne.
Zudem ist das Rosinenpicken für Politiker:innen ein leichtes, wenn ein Panel eine lange Liste von Empfehlungen erstellt – nur die einfachsten und am wenigsten radikalen Empfehlungen werden umgesetzt. Ich finde es besser, wenn Bürgerpanels für ein spezifisches Problem verantwortlich sind.
«Die Probleme unseres Systems zu überwinden» ist weder klar als Ziel, noch realistisch als Anspruch. Am erfolgreichsten waren Panels, wenn sie eine bestimmte Sache beurteilen sollten. Eine Frage wie «Wie erreichen wir Netto-Null?» ist zu komplex und umfasst eigentlich zu viele verschiedene Themen. Eine bessere Frage für ein Bürgerpanel wäre: «Sollten wir Privatjets verbieten?»
Auch in der Schweiz wird mit Bürgerpanels experimentiert. Braucht es die, wenn es schon so viele Volksabstimmungen gibt?
Ich bin kein Experte für das Schweizer System, aber ich sehe Volksabstimmungen und Bürgerpanels eher ergänzend. Abstimmungen sollten auf guten Argumenten beruhen, und Bürgerpanels können dabei helfen. Das war beim Brexit-Referendum ein Problem. Selbst die Unpolitischen in der Familie und im Freundeskreis fanden das Abstimmen wichtig. Doch sie sagten mir, dass ihnen gute Informationen fehlen.
Wenn ihnen jemand gesagt hätte: 150 zufällig ausgewählte Menschen haben darüber diskutiert, sie sind zu diesen Schlüssen gekommen, wäre ihnen das eine vertrauenswürdige Informationsquelle gewesen. Ein Beispiel für diese Form ist die Citizens’ Initiative ReviewExterner Link in Oregon. Das könnte ein Weg sein, Panels mit der Schweizer direkten Demokratie zu verbinden.
Volksabstimmungen eignen sich auch für das Hochskalieren eines Bürgerpanels. Alle effektiven Panels wurden mit einem Referendum kombiniert. Ein Bürgerpanel hat eine transformative Wirkung auf die Beteiligten, aber wir sprechen von etwa 150 Personen – zu Wenige, um die Gesellschaft zu verändern. Eine Abstimmung gibt den Medien einen Grund zu berichten, und steigert das Interesse in der Öffentlichkeit. Abstimmungen sind also wichtig, um die Auseinandersetzung in der Gesellschaft zu verbreiten.
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Wird die Schweizer Demokratie besser, wenn der Zufall mitredet?
Werden Sie weiter zu Bürgerpanels forschen – oder gibt es andere Instrumente demokratischer Innovationen, die beim Bekämpfen des Klimawandels helfen könnten?
Ich wünschte, ich hätte eine gute Antwort. Ich bin mir sicher, dass Bürgerpanels kein Allheilmittel sind, das alle Probleme löst. Sie sind ein hilfreiches Instrument, aber das ungesunde Verhältnis zur Umwelt ist tief in unserer repräsentativen Politik verankert. Wir müssen dieses ändern.
Dieser Wandel wird auf Widerstand stossen – von sehr wohlhabenden Menschen, aber auch von normalen Menschen, die sich zum Beispiel daran gewöhnt haben, regelmässig zu fliegen. In den reichen Ländern haben wir uns an eine nicht nachhaltige Lebensweise gewöhnt. Für die Veränderung braucht es einen umfassenden Transformationsprozess. Bürgerpanels können ein nützlicher Teil davon sein – aber wahrscheinlich nur ein kleiner.
Editiert von David Eugster.
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