Cannabis-Legalisierung zurück auf der Agenda
Die Schweiz spielte schon immer eine Pionierrolle in der Drogenpolitik. 1986 war sie das erste Land, das "Fixerstübli" für Drogensüchtige einrichtete, und 1994 startete sie das erste Programm zur ärztlich kontrollierten Heroinabgabe. Heute diskutieren die Städte die Einführung von Cannabis-Clubs – ein kontroverses Thema.
Die ehemalige Innenministerin Ruth Dreifuss, die für ihre wegweisende Drogenpolitik den Spitznamen «Dealerin der Nation» erhalten hatte, ist eines der Aushängeschilder der Legalisierungs-Kampagne.
Einer ihrer Vorschläge ist die Idee so genannter «Cannabis Social Clubs», ein Konzept, bei dem ihr Wohnkanton Genf eine Führungsrolle einnimmt. Grössere Städte wie Genf, Bern, Basel und Zürich haben eine Arbeitsgruppe aus Experten zusammengestellt, welche die Details für ein mögliches Pilotprojekt ausarbeiten soll.
«Wir schlagen vor, mit einem möglichen neuen Modell zu experimentieren, denn wir müssen wissen, wie sich der Schwarzemarkt, das Verbrechen und die öffentliche Gesundheit in Folge einer Regulierung verändern», erklärte Dreifuss, die auch Mitglied der «Weltkommission für Drogenpolitik» (Global Commission on Drug PolicyExterner Link) ist. «Durch das Pilotprojekt gewinnen wir Erfahrung und Fakten, um eine neue Politik gestalten zu können.»
Die Idee ist die Eröffnung von Clubs, in denen jede Person über 18 Jahren Marihuana in einer geordneten Umgebung rauchen kann. Das Konzept wurde erstmals 2005 von der «Europäischen Vereinigung für eine gerechte und effektive DrogenpolitikExterner Link» (ENCOD) erdacht, einem europaweiten Netzwerk von 140 Nichtregierungs-Organisationen und Privatpersonen.
In der Schweiz ist Cannabis die am häufigsten konsumierte illegale Droge. Etwa 29% der Bevölkerung haben Marihuana zumindest einmal in ihrem Leben konsumiert, wie kürzlich eine Studie zeigte. Bis zu 500’000 Personen, also etwa 5,7% der Schweizer Bevölkerung, haben im letzten Jahr einen Joint geraucht und damit eine – wenn auch nur geringfügige – Straftat begangen.
Geschichte
1993 führte die damalige Innenministerin Ruth Dreifuss die so genannte ViersäulenpolitikExterner Link ein, die sich auf die Bereiche Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression stützte. Ein Jahr später wurde als Pilotprojekt die ärztlich kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstsüchtige gestartet.
Ebenfalls 1993 wurde in Bern der erste Hanfladen eröffnet, gefolgt von weiteren im ganzen Land. Auf dem Höhepunkt der Schweizer «Laissez-faire»-Haltung 2002 zählte das Land ganze 40 Läden, wovon einige bis zu einer halben Tonne Hanf pro Jahr verkauften.
2004 schuf der Gesetzgeber eine Basis, um Shops zu schliessen, die Cannabis mit illegal hohem Gehalt der psychoaktiven Substanz THC verkauften.
Heute wird der Konsum zwar nicht geduldet, aber nicht immer geahndet.
Während der Anbau, Verkauf und Konsum von Cannabis mit mehr als 1% Tetrahydrocannabinol (THC) in der Schweiz verfolgt werden kann, wird ein Erwachsener, der im Besitz von weniger als 10 Gramm Hasch erwischt wird, nur mit einer Ordnungsbusse von 100 Franken belegt – auch wenn die Polizei Gewicht oder Inhalt auf der Strasse schwer einschätzen kann.
Bei der Anwendung des nationalen Gesetzes haben die kantonalen Behörden einen so genannten Ermessensspielraum. Weil ihnen die Ressourcen fehlen, wendet die Polizei dieses Prinzip bereits ziemlich oft an und erteilt Hasch-Konsumenten keine Bussen. Sollte das Pilotprojekt also zustande kommen, müsste die lokale Polizei Cannabis nicht legalisieren, sondern könnte lediglich dessen Konsum in den «Social Clubs» tolerieren – ein typischer Schweizer Balanceakt.
Für konservative Parteien und Interessengruppen sind Abstinenz und hartes Durchgreifen die einzige Lösung. Grössere Städte allerdings, in denen sich die Polizei täglich mit Cannabis rauchenden Jugendlichen beschäftigen muss, verlangen einen direkteren Ansatz: Marktregulierung und legaler Konsum für Erwachsene.
«Wir brauchen eine Regelung. Kein Pauschalverbot, kein gesetzesfreier Konsum», sagte Franziska Teuscher, Direktorin für Bildung und Soziales in der Stadt Bern. «Für mich ist der einzige vielversprechende Weg vorwärts dieses Pilotprojekt, das uns Fakten und nicht nur Blendwerk liefern wird.»
Legalisierungs-Experimente
Laut Markus Jann vom Departement des Inneren wollen die Projekte die Nutzung von Cannabis innerhalb des existierenden legalen Rahmens untersuchen. Die Landesregierung und die kantonalen Regierungen warten nun auf Details der Projekte aus den Städten.
Gleich wie in den USA, wo Bundesstaaten wie Colorado und Washington mit der Legalisierung von Cannabis experimentieren, wollen die involvierten Schweizer Städte eine lokale Lösung untersuchen, denn eine Änderung der nationalen Gesetzgebung ist in nächster Zeit unrealistisch.
«Die Situation ist unbefriedigend», so Teuscher. «Es ist wichtig, dass wir vorwärtskommen und eine Lösung finden. Wir müssen mit dieser Frage als Gesellschaft umgehen. Es gibt für uns viel zu gewinnen und nichts zu verlieren.»
Gefährlich?
Heute sind sich die meisten Ärzte, Drogenexperten und Suchtspezialisten einig, dass Cannabis schädlich sein kann. Es herrscht ein breiter Konsens, dass der Wirkstoff einen Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten haben und mental instabilen Personen schaden kann, wie auch Jugendlichen, deren Gehirn sich noch entwickelt.
Zudem hat das heute «Indoor» kultivierte Cannabis einen viel höheren THC-Gehalt als jene Pflanzen, welche die Leute vor 20 Jahren in Hinterhöfen und auf Balkonen angepflanzt haben. Dies kann erklären, warum starker Cannabis-Konsum oft in Zusammenhang mit depressiven Störungen und Schizophrenie gebracht wird.
Auch wenn Einigkeit über mögliche Schäden für gefährdete Menschen besteht, ist man sich doch uneins über die Gefahren der Nutzung als Freizeitdroge für erwachsene Konsumenten, die Rolle als Einstiegsdroge, die Suchtgefahr, das Gewaltpotenzial, Unfälle und Verbrechen – und wie dies alles gesetzlich geregelt werden soll.
Jugendschutz
Jugendliche unter 18 Jahren sollen keinen Zutritt zu den vorgeschlagenen «Cannabis Social Clubs» erhalten. Suchtmonitoring SchweizExterner Link schätzt, dass etwa 9% der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 19 Jahren in den letzten 30 Tagen Cannabis geraucht haben. Junge Männer konsumieren mehr als doppelt so häufig Cannabis wie junge Frauen.
Etwa 15,4% der Schweizerinnen und Schweizer zwischen 15 und 34 Jahren haben im letzten Jahr Cannabis konsumiert, verglichen mit 11,1% in Deutschland und 17,5% in Frankreich.
Nach Meinung der meisten Experten sollte der Konsum von Cannabis für Kinder und Adoleszente verboten bleiben, ähnlich wie dies für Tabak und Alkohol gilt. Jugendliche dürfen Alkohol ab 18 Jahren kaufen, Bier und Wein ab 16 und Tabak ab 16 oder 18, je nach Kanton – in einigen ist der Tabakkonsum überhaupt nicht geregelt.
2008 wurde die Volksinitiative «Für eine vernünftige Hanf-Politik mit wirksamem Jugendschutz» mit über 63% der Stimmen abgelehnt. Es ist nicht anzunehmen, dass eine ähnliche Vorlage heutzutage ein wesentlich anderes Resultat erreichen würde.
«Wir müssen eine Droge gesetzlich regeln, weil sie über das Potenzial verfügt, gefährlich zu sein, und nicht, weil sie es nicht sein könnte», sagte Dreifuss. «Wenn man heute den Cannabis-Konsum überprüfen müsste und die letzten 50 Jahre ignorieren würde, käme man darauf, einfach internationale Leitlinien auszuarbeiten und von der Produktion bis zum Konsum alles zu regeln, wie bei Tabak, Alkohol oder Lebensmitteln.»
Zwei kürzliche Veranstaltungen sind symbolisch für die zwei sich diametral gegenüberstehenden Meinungen betreffend Cannabis-Gesetzgebung: Eine Debatte in der Hauptstadt Bern zwischen führenden Persönlichkeiten der Drogenpolitik und eine Diskussion zwischen besorgten Eltern und Politikern in der Berner Oberländer Stadt Thun.
In Bern verlangten Dreifuss, Teuscher und Toni Berthel, Präsident der Eidgenössischen Kommission für DrogenfragenExterner Link, eine «auf empirische Beweise gestützte» Politik, welche «die Realität reflektiert», wie auch die liberale humanistische Tradition des Landes. «Ich glaube, man sollte nicht bestraft werden, wenn man anderen Menschen nicht schadet. Repression hat ganz klar während 50 Jahren nicht funktioniert», sagte Dreifuss.
Gegen Willen und Gesetz
Die Teilnehmer des liberalen Forums wurden draussen von einer Gruppe kerzenhaltender Aktivisten der beiden Organisationen «Dachverband Drogenabstinenz SchweizExterner Link» und «Eltern gegen DrogenExterner Link» begrüsst, die ihnen Broschüren über die gefährliche Wirkung von Cannabis auf die körperliche und mentale Gesundheit überreichten.
Dieser Ansicht sind auch viele rechtsbürgerliche Politiker, die nicht nur die Gefahren der Droge betonen, sondern auch, dass Verbote einige potenzielle Konsumenten davon abhalten könnten und eine Legalisierung eine Gesetzesänderung nötig machen würde.
«Mit einer liberaleren Haltung würde sich der Staat selber zum Drogendealer machen», sagte die ehemalige Polizistin Andrea Geissbühler, Nationalrätin der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Präsidentin von «Eltern gegen Drogen». «Eine Liberalisierung würde gegen den Willen des Volkes geschehen und das existierende Betäubungsmittelgesetz verletzen.»
Dieser Meinung ist auch Daniel Beutler, Arzt und Mitglied der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU), einer wertkonservativ-christlichen Partei. «Wir haben vor 20 Jahren liberalisiert, und es funktionierte nicht», so Beutler, der an der Veranstaltung in Thun zugab, dass er in seiner Jugend oft Hasch geraucht habe. «Ich sage heute: Fangt nicht mit diesem ‹Shit› an!»
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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