Carla del Ponte: «Diese Verbrechen verjähren nicht»
Die Verhaftung von Ratko Mladic hat in der internationalen Gemeinschaft grosse Genugtuung hervorgerufen. Besonders auch bei Carla del Ponte. Die ehemalige Chefanklägerin des Haager Tribunals sagt, Kriminelle könnten eben nicht ewig vor den Gerichten fliehen.
Die Schweizer Juristin Carla del Ponte amtete von 1999 bis 2007 als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). In ihrer Amtszeit arbeitete sie hart daran, dass die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien nach den Haag überstellt werden.
Trotz einiger Erfolge, wie der Festnahme des ehemaligen serbischen Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic, konnte sie während ihrer Amtszeit weder den bosnisch-serbischen General Ratko Mladic noch den ehemaligen bosnisch-serbischen Präsidenten Radovan Karadzic dingfest machen.
swissinfo.ch: Was hatten Sie für Gefühle, als Sie von Ratko Mladics Verhaftung erfuhren?
Carla Del Ponte: Dies ist in erster Linie ein grosser Tag für die internationale Justiz, insbesondere für den Internationalen Strafgerichtshof. Heute war es möglich, einen Verantwortlichen zu fassen, der – zusammen mit Karadzic und Milosevic – die schrecklichen Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien zu verantworten hat.
Wir arbeiteten über acht Jahre auf die Verhaftung Mladics hin. Und heute wurde sie Wirklichkeit. Mladic wird, wie schon 160 Menschen vor ihm, vor dem Haager Tribunal erscheinen. Es fehlt noch einer (Goran Hadzic), aber ich glaube, dass auch er bald dasselbe Schicksal erleiden wird.
swissinfo.ch: Sehen Sie Mladics Festnahme als Signal gegen die Straflosigkeit?
C. D. P.: Ja, genau. Die erfolgreiche Festnahme bedeutet, dass sich solche Leute in Zukunft weniger sicher fühlen dürften. Vielleicht fasst man sie nicht sofort, aber früher oder später wird die Arbeit von Erfolg gekrönt sein.
Das Wichtigste ist, nie aufzugeben, nie aufzuhören zu kämpfen für die Gerechtigkeit, gerade im Andenken an die Opfer der Massaker. Ich bin überzeugt, dass die heutige Nachricht ein Anreiz sein wird für die anderen Tribunale – auch internationale –, dass sich der Kampf für die Wahrheit lohnt.
Diese Verbrechen verjähren nicht: Eines Tages werden die Täter zur Rechenschaft gezogen.
swissinfo.ch: Wann in den letzten Jahren haben Sie das Gefühl gehabt, dass sich die Situation verändern könnte?
C. D. P: Wir haben bereits zwischen 2005 und 2006 erkannt, dass sich der Kontext zu verändern begann, vor allem nach der politischen Wende, die sich beim Präsidentschaftswechsel in Serbien von Vojislav Kostunica zu Boris Tadic anbahnte. Dafür gab es konkrete Anzeichen: Die Polizei verhaftete viele Menschen, die in dem Konflikt eine Rolle gespielt hatten, und überstellte sie nach Den Haag.
Der wahre Wendepunkt war jedoch die Festnahme von Radovan Karadzic im Jahr 2008. Das war das Zeichen des politischen Willens, uneingeschränkt mit dem Tribunal zusammen zu arbeiten.
Mladics Verhaftung war komplizierter, weil man ihn meist nicht rechtzeitig lokalisieren konnte, um ihn zu ergreifen. Auch zu meiner Zeit gab es ein paar Gelegenheiten, ihn zu verhaften, aber die Polizei kam jedes Mal zu spät.
Offensichtlich wurden in letzter Zeit die Untersuchungen verstärkt und – vielleicht Dank ein wenig Glück – wurden sie nun erfolgreich abgeschlossen.
swissinfo.ch: Bedeuten diese Verhaftungen, dass es in der serbischen Gesellschaft künftig weniger Schutz für diese Menschen geben wird?
C. D. P: Die Festnahmen zeigen in erster Linie, dass die betreffenden Personen nicht mehr den Schutz wichtiger Institution geniessen, wie dies am Anfang der Fall war.
Die Gesuchten wurden meist von Einzelpersonen versteckt, denn ein Charakter wie Mladic zum Beispiel konnte auf viele Bekanntschaften zählen, vor allem in Kreisen von ehemaligen Militärangehörigen.
Wenn man Genaueres über die Umstände von Mladics Verhaftung wissen wird, kommt vielleicht heraus, dass er durch eine dieser Verbindungen nicht mehr geschützt wurde. Vielleicht war es gar einer von ihnen, der diese Festnahme ermöglicht hat.
swissinfo.ch: Angesichts der jüngsten Entwicklungen, welches ist die grösste Herausforderung für die Internationale Justiz?
C. D. P: Die grösste Herausforderung wird sein, die Personen, die solcher Verbrechen beschuldigt werden, zu verhaften und ihnen den Prozess zu machen. Aber auch die Durchführung der Untersuchungen, die Vorbereitung der Anklage sind wichtige Aufgaben, die – in der Regel mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft – erledigt werden müssen.
Schwierigkeiten bestehen jedoch, wenn sich der Angeklagte in seinem Land befindet und er dort als Held angesehen wird, wie im Fall Mladic. Das gilt auch für aktuelle Fälle: Ich bezweifle, dass ein Haftbefehl gegen Gaddafi, wie er von vielen gewünscht wird, schnell zu dessen Verhaftung führen würde.
Aber was zählt, ist die Botschaft der heutigen Ereignisse: Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf, und früher oder später müssen sich jene, die Verbrechen begangen haben, dafür verantworten.
Geboren 1947 in Bignasco (Valle Maggia) im Tessin.
Sie studiert Internationales Recht in Bern, Genf und Grossbritannien.
1981 wird sie zur Staatsanwältin für den Kanton Tessin berufen.
Sie geht kompromisslos gegen
Geldwäscherei, organisierte Kriminalität, Waffenschmuggel
und grenzüberschreitende Wirtschaftskriminalität vor.
1989 entgeht sie nur knapp einem
Sprengstoff-Anschlag.
1994 wird sie Bundesanwältin
der Eidgenossenschaft.
1999 folgt sie auf Louise Arbour als Chefanklägerin der
Internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und für Ex-Jugoslawien.
Sie tritt Ende 2007 zurück. Während ihrer achtjährigen Amtszeit beim TPIY wurden 161 Personen angeklagt und 94 verurteilt.
Von Januar 2008 bis Ende Februar 2011 war sie
Botschafterin in Argentinien.
Übertragung aus dem Italienischen: Etienne Strebel
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