«Mit Assad verhandeln, wie man es mit Milosevic tat»
Die frühere Bundesanwältin Carla Del Ponte, heute Mitglied der UNO-Untersuchungskommission zu Syrien, ist bereit, Baschar al-Assad zu treffen. Ihrer Ansicht nach muss man mit dem syrischen Präsidenten verhandeln und ein internationales Gericht ins Leben rufen.
Carla Del Ponte, die heute 69 Jahre alte ehemalige Bundesanwältin (1994-1999) und frühere Anklägerin der Internationalen Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda (1999-2007), die jüngst in Zürich war, prangert nach wie vor die Straflosigkeit für die Kriegsverbrecher in Syrien an. Sie zieht Parallelen mit dem Krieg im früheren Jugoslawien, betont dabei aber einen makabren Unterschied: Die Verbrechen gegen die Bevölkerung in Syrien seien noch schlimmer.
swissinfo.ch: Sie sind seit 2012 Mitglied der UNO-Kommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Syrien, ein freiwilliges Mandat, das ursprünglich sechs Monate hätte dauern sollen. Werden Sie sich im März, wenn Ihr Mandat wie jedes Jahr erneuert werden muss, nochmals zur Verfügung stellen?
Carla Del Ponte: Ja, es muss sein. Im März wird unser nächster Bericht, der elfte, im Menschenrechts-Rat vorgestellt. Im Moment interessiert sich aber niemand für Justiz und Gerechtigkeit. Man muss unbedingt mit dem syrischen Präsidenten verhandeln, wie es die internationale Gemeinschaft beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien mit Slobodan Milosevic getan hatte.
Unsere Arbeit wird sehr nützlich sein, wenn einmal ein Tribunal seine Arbeit aufnehmen kann. Objektive Beweise für begangene Verbrechen, die Zahl der Opfer und die Identifizierung hoher Verantwortlicher liegen bereits vor.
swissinfo.ch: Konnte die Untersuchungskommission in Syrien arbeiten?
C.D.P: Nein, aber in den angrenzenden Nachbarstaaten. Wir haben drei Teams mit rund 20 Ermittlern. Wir befragen die Opfer, die schreckliche Dinge erlitten haben. Es ist schlimmer als während den Kriegen im Balkan. Besonders scheusslich ist die Folter während der Haft. Was mich am meisten berührt, ist das Schicksal der Kinder. Nicht nur in Syrien selbst, sondern auch auf dem Weg ins Exil.
swissinfo.ch: Was wollen Sie unternehmen, um den UNO-Sicherheitsrat zu überzeugen, einen internationalen Strafgerichtshof zu etablieren?
C.D.P: Es braucht ein spezifisches Tribunal, weil die Verbrechen derart enorm und derart zahlreich sind, dass der Internationale Strafgerichtshof (ICC) sich nicht damit befassen könnte.
Zudem sollte das Tribunal in einem der nahe gelegenen Länder eingerichtet werden, um die Gerichtsarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen. Ich denke aber, dass kein Entscheid möglich ist, bevor es einen Waffenstillstand gibt.
swissinfo.ch: Und glauben Sie daran?
C.D.P: Zurzeit glaube ich nicht daran, mit Terroristen kann man nicht verhandeln. Und diese halten heute einen Drittel des Landes besetzt. Die Tatsache, dass die Diskussionen in Genf suspendiert wurden, zeigt, dass Gespräche unter den jetzigen Bedingungen nicht funktionieren. Die Opposition ist gespalten. Man muss mit der Regierung sprechen.
Idealerweise müssten die involvierten Staaten und die syrische Regierung die terroristischen Gruppen gemeinsam zerstören. Aber das ist unmöglich, so lange verschiedene Staaten den Abgang Assads vor einer Aufnahme jeglicher Verhandlungen fordern.
Unterdessen sterben die Leute weiter, und die totale Zerstörung des Staates schreitet voran. Ich will nicht verheimlichen, dass ich manchmal Lust habe, diese Arbeit aufzugeben. Aber wenn ich vor Ort unterwegs bin, dann weiss ich, dass wir weiter machen müssen.
swissinfo.ch: Sie waren von der syrischen Regierung eingeladen worden. Ist diese Einladung noch immer gültig?
C.D.P: Ich war eingeladen, allein zu gehen, was die Untersuchungskommission anfänglich zurückgewiesen hatte. Aber Ende 2015 gab sie grünes Licht. Jetzt warte ich auf eine Antwort aus Damaskus. Ich bin bereit, zu gehen. Es braucht die Kooperation der Regierung. Ich will wissen, wer genau chemische Waffen eingesetzt hat.
swissinfo.ch: Bestehen schon Anklagen?
C.D.P: Im Fall von zwei Verantwortlichen der Terrororganisation Daech (Islamischer Staat, IS, N.d.R.), waren wir bereit, zu verlangen, dass Anklage erhoben wird. Die Dossiers waren vollständig, aber dann kamen diese beiden Männer bei Kämpfen um, wie wir überprüfen konnten.
Zweifel an Geheimabkommen mit der PLO
1995 nahm Carla Del Ponte, die damals seit einem Jahr Bundesanwältin war, Ermittlungen im Fall des Anschlags gegen eine Swissair-Maschine im Februar 1970 nochmals auf, bei deren Absturz nach der Explosion einer Bombe an Bord 47 Menschen umgekommen waren, wie der NZZ-Journalist Marcel Gyr in einem Ende Januar erschienen Buch schrieb.
1999 verliess Del Ponte die Schweiz, da sie als Chefanklägerin an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien berufen worden war. Und ein Jahr darauf wurde das Strafverfahren im Fall Würenlingen schliesslich ganz eingestellt, zu einem Prozess kam es nie.
Seit das Buch von Marcel Gyr erschienen ist, zirkuliert die Hypothese, dass der Bundesrat (Regierung) die Einstellung des Verfahrens gefordert haben soll. Dem widerspricht Carla Del Ponte. «Der Bundesrat hat nicht verboten, im Fall Würenlingen zu ermitteln.»
Ein Teil der Ermittlungen über das Attentat gegen die Swissair-Maschine sei 1970 erfolgt, was aber nicht für eine Anklage ausgereicht habe, sagte Del Ponte. «Dazu fehlte etwas. Die Schweizer Regierung könnte zwar, wenn es die Staatsräson erfordert, Ermittlungen stoppen, doch dann muss dieser Entscheid auch in den Akten festgehalten, abgelegt werden. Aber da gab es überhaupt nichts. Deshalb setzten wir die Ermittlungen fort. Es ist nicht zutreffend, zu sagen, dass die Ermittlungen aufgegeben werden mussten, ich weiss aber nicht, wieso mein Nachfolger sie schliesslich eingestellt hat.»
Del Ponte erinnert sich nicht mehr im Detail an die damaligen Ermittlungen. «Aber es befindet sich alles in den Akten, denn wenn ich etwas immer getan habe, ist es, exakte Spuren der getanen Arbeit zu hinterlassen. Es war mir immer ein Anliegen, dass mein Nachfolger die Bestandteile der Ermittlungen rekonstruieren kann, wenn ich eines Tages nicht mehr da bin. Sogar meine persönlichen Notizen befinden sich in den Akten.»
Auch Alt Staatssekretär Franz Blankart bestreitet, dass die Schweiz ein Geheimabkommen getroffen habe. Der persönliche Mitarbeiter des damaligen Aussenministers Pierre Graber hält dies für erfunden.
«Ein solches Abkommen gab es nicht», sagte Blankart in einem Interview mit «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» vom 6. Februar. «Für mich klingt das erfunden.» Im Buch des Journalisten Marcel Gyr finde er «keinen Beweis dafür», so Blankart.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch