«Christoph Blocher gefährdet das Wohl der Schweiz»
Die bilateralen Verträge seien für die Schweiz weniger wichtig als oft behauptet, schrieb der SVP-Chefstratege Christoph Blocher am 13. Juli in der NZZ am Sonntag. Damit liegt er komplett daneben, widerspricht ihm FDP-Nationalrat Ruedi Noser eine Woche später.
Die Schweiz ist in der Welt vor allem für zwei Dinge bekannt: für die hohe Qualität ihrer Produkte und für ihre Verlässlichkeit. Letztere bezieht sich nicht nur auf die Politik und das Rechtssystem, sondern auch auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die bilateralen Verträge, die uns den Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern, sind ein wichtiger Teil davon.
Wenngleich einige Teile der Bilateralen für die Schweizer Wirtschaft heute nicht mehr überlebenswichtig sind, können wir dennoch nicht auf sie verzichten. Dies gilt insbesondere für die Personenfreizügigkeit und die Forschungszusammenarbeit.
Ruedi Noser
Ruedi Noser, 53, ist Gründer und Besitzer der im Telekommunikationsbereich tätigen Noser-Gruppe (500 Beschäftigte, 87 Millionen Franken Umsatz).
Seit 2003 ist er zudem Nationalrat der FDP. Dort präsidiert er zurzeit die Kommission für Wirtschaft und Abgaben.
Noser war von 2003 bis 2009 Vizepräsident der FDP Schweiz.
Mit dem Volksentscheid vom 9. Februar 2014 soll künftig nicht mehr die Nachfrage nach Arbeitskräften über die Zuwanderung entscheiden, sondern eine Verwaltungsstelle in Bern. Damit stehen die bilateralen Verträge auf der Kippe. Denn der freie Personenverkehr ist ein Grundpfeiler unserer Beziehungen zur EU. Natürlich können Abkommen neu verhandelt werden. Die EU wird in vielen Bereichen, etwa beim Luft- und Landverkehr oder bei den technischen Handelshemmnissen, ebenso ein Interesse an einer guten Regelung haben wie wir. Doch solche Verhandlungen nehmen Jahre in Anspruch.
Wachstum dank Bilateraler
Spätestens seit dem EWR-Nein wissen wir: Politische Unsicherheit hat spürbare Folgen für die Wirtschaft – und damit auch für den Arbeitsmarkt. Erst dank den Bilateralen haben wir die Rezession der 90er-Jahre überwunden. Seither verzeichnet die Schweiz ein stabiles Wirtschaftswachstum. Ein Blick auf das Pro-Kopf-Wachstum des Bruttoinlandprodukts genügt: Zwischen 2002 und 2013 ist dieses um rund 5800 Franken, von 47’700 auf 53’500 Franken, gestiegen. Dies, obwohl der Staat in diesem Zeitraum überdurchschnittlich viele Stellen schuf und die Finanzbranche eine grosse Krise verkraften musste.
Die Personenfreizügigkeit hat sich in den vergangenen Jahren zum zentralen bilateralen Abkommen für unser Land entwickelt. Ein offener Arbeitsmarkt führt zu Innovation und Wachstum, staatliche Kontingente dagegen zu Strukturerhalt und Stagnation.
Ein Beispiel: Mein Unternehmen hat vor sechs Jahren überraschend den Zuschlag von Google für die Entwicklung des Android-Betriebssystems erhalten. Innert Monatsfrist mussten wir dafür Entwickler aus ganz Europa nach Winterthur holen, die unser Team während neun Monaten unterstützten. Nach Abschluss des Auftrags kehrte die Hälfte der Entwickler zurück, die anderen arbeiten seither weiter für uns.
Ohne Personenfreizügigkeit kaum Flexibilität
Solche Aufträge wären in einem Kontingentsystem schlicht nicht mehr möglich, weil wir den Personalbedarf nicht schon ein Jahr zuvor kennen und weil Inländervorrang und Anträge auf Kontingente uns die Flexibilität nähmen. Fazit: Ohne Personenfreizügigkeit verlieren unsere Unternehmen solche und viele weitere Aufträge ans Ausland. Zudem bevorzugen Kontingente das Bestehende und benachteiligen das Neue.
In den letzten zehn Jahren ist der Raum Zürich zu einer Drehscheibe für Game-Design geworden. 2009 hat Walt Disney ein Forschungszentrum eröffnet. Seither sind weitere Firmen im Bereich IT und Design entstanden oder haben sich angesiedelt. Die Schweiz ist ein teurer Standort. Mit dem 9. Februar haben sich die Rahmenbedingungen für neue Branchen drastisch verschlechtert. Das Risiko ist hoch, dass sich aufstrebende Wirtschaftszweige neu im Ausland ansiedeln.
Das gilt auch für den Schweizer Forschungsstandort. Wir werden die besten Köpfe weder halten noch zu uns holen können, wenn wir von den europäischen Forschungsprogrammen ausgeschlossen sind. Das wäre, wie wenn der FC Basel nicht mehr in der Champions League mitspielen könnte – Spitzenforschung braucht ein internationales Umfeld, und die EU gehört da dazu. Deshalb ist das Forschungsabkommen mit der EU für die Schweiz vital.
Mittel gegen Stillstand
Kritiker mögen ins Feld führen, stetes Wirtschaftswachstum schade der Schweiz. Diesen muss entgegnet werden, dass der Staat und das Sozialsystem Schweiz ohne Wachstum nicht finanzierbar sind. Die Lebenserwartung steigt weiter, und in den nächsten Jahren gehen die Babyboomer in Rente. Das bedeutet Mehrkosten im Gesundheitswesen und bei der AHV sowie ein höherer Wohnungsbedarf und eine stärkere Auslastung der Infrastruktur.
Nicht die Zuwanderung bringt also Mehrkosten, im Gegenteil: Dank der Zuwanderung sind Renten, Gesundheitswesen und Infrastruktur überhaupt finanzierbar. Die Schweiz verzeichnet seit fünfzehn Jahren Mehreinnahmen und weniger Schulden. Das haben wir vor allem unserer bisherigen Offenheit zu verdanken.
Die Personenfreizügigkeit ist das Mittel gegen Stillstand, Überalterung und Strukturerhaltung. Alt Bundesrat Christoph Blocher hat recht: Die Wirtschaft kann auch ohne die bilateralen Verträge leben. Die Frage ist jedoch: Kann es auch die Schweiz?
© NZZ am Sonntag; 20.07.2014
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