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Das internationale Genf im Wandel

Wann fällt der Patentschutz? NGOs drängen auf Lösung

Beerdigung in Zimbabwe
Die Entwicklungsländer sind von der Pandemie stark betroffen. Sie haben jedoch Schwierigkeiten, Impfstoffe zu erhalten, da Pharmaunternehmen vor allem an reiche Länder liefern. Im Bild eine Bestattung in Zimbabwe. Keystone / Aaron Ufumeli

Die wegen der Omikron-Variante eingeführten Reisebeschränkungen haben die Welthandelsorganisation veranlasst, ein wichtiges Ministertreffen in Genf zu verschieben. Damit hat die Organisation mehr Zeit, sich mit der Frage zu befassen: Wie können Handelsregeln geändert werden, um die Ungleichheit bei Impfstoffen zu beseitigen?

Ein Verzicht auf Rechte an geistigem Eigentum könnte der Schlüssel sein, um mehr Covid-Medikamente und Impfstoffe in Entwicklungsländer zu bringen. Doch Staaten, NGOs und Pharmaindustrie sind sich uneins darüber, wie Milliarden von Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen am besten versorgt werden können. So sind beispielsweise weniger als 10% der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent geimpft, während es in der Schweiz rund 65% sind und die Quote in vielen reichen Ländern höher ist.

Befürworter:innen eines Patentverzichts sagen, dass damit der Zugang zu lebensrettenden Produkten erleichtert würde. Andere, darunter die Schweiz, halten dies jedoch nicht für die Lösung. Mehr als 100 der 164 WTO-Mitgliedsländer unterstützen einen Vorschlag Indiens und Südafrikas für eine vorübergehende Ausnahmeregelung im Rahmen des TRIPS-Abkommens (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen EigentumsExterner Link). Die Gespräche laufen jedoch schon seit mehr als einem Jahr, und es gibt noch immer keinen Konsens.

Die Idee ist, dass mehr Labors auf der ganzen Welt Zugang zu der Technologie erhalten und generische Versionen herstellen könnten. Dies würde nach Ansicht der Befürworter:innen sowohl die Kosten insbesondere für Covid-Impfstoffe senken als auch die Produktion weltweit steigern.

Weniger als fünf Prozent geimpft

Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass etwas getan werden muss: Über 5 Millionen Menschen sind im Zuge der Pandemie weltweit gestorben. Und obwohl arme Länder mit ohnehin schon schwachen Gesundheitssystemen besonders stark betroffen sind, gingen mehr als drei Viertel der weltweit verabreichten 5,5 Milliarden Impfdosen an vornehmlich reiche Staaten. Diese machen rund einen Drittel der Weltbevölkerung aus. Im Vergleich dazu sind weniger als fünf Prozent der Bevölkerung Afrikas geimpft worden.

Die Ärzte ohne Grenzen und andere NGOs wie Amnesty International behaupten, dass Unternehmen wie Pfizer und Moderna auf den Patentschutz beharren, damit sie die Preise hochhalten können. Die Konzerne streiten dies ab.

«Der Vorschlag von Indien und Südafrika entstand aus Frust über die schleppende Verteilung von Impfstoffen in Entwicklungsländern und Berichte, wonach die Konzerne freiwillig keine Lizenzen vergeben», sagt Duncan Matthews, Direktor des britischen Queen Mary Intellectual Property Research Institute.

Gemäss dieser Berichte beantragten Hersteller in Bangladesch, Südafrika und Kanada freiwillige Lizenzen, wurden aber von den Konzernen abgewiesen. «Die Frage stellt sich: Warum weigern sich die Konzerne, Lizenzen zu erteilen, damit die Produktionskapazitäten erhöht und die Pandemie besser bekämpft werden kann?»

Viele Mitgliedstaaten unterstützen deshalb der Antrag mit dem Titel «Verzicht auf einige Bestimmungen des TRIPS-Abkommens zur Prävention, Eindämmung und Behandlung von Covid-19».

Was würde dieser Verzicht bedeuten? 

«Das WTO-Abkommen legt Mindeststandards für die Durchsetzung des Schutzes geistigen Eigentums fest, die im nationalen Recht der WTO-Mitgliedsländer verankert sein müssen», erklärt Matthews. «Es besteht oft der Irrglaube, dass die Ausnahmeregelung automatisch die Rechte an geistigem Eigentum für Impfstoffe und verwandte Technologien aufheben würde.» Das sei aber nicht der Fall.

«Vielmehr steht es im Ermessen eines Mitgliedslandes, diese Rechte ausser Kraft zu setzen. Indien, Südafrika und ihre Befürworter haben ausdrücklich gesagt, dass sie freiwillige Lizenzen möchten. Aber wenn sie die nicht erhalten, wollen sie die Rechtsinhaber an den Tisch holen und ihnen sagen: Wenn ihr nicht bereit seid, zu fairen und vernünftigen Bedingungen zu verhandeln, können wir auch eure Eigentumsrechte im Rahmen eines nationalen Gesetzes aushebeln.» Es gehe darum, den Entwicklungsländern mehr Macht bei Verhandlungen zu verleihen, schlussfolgert er.

Freiwillige Lizenzen seien ein gängiges kommerzielles Instrument, von dem auch die Inhaber profitierten. «Wenn ein Unternehmer eine freiwillige Technologietransfer-Vereinbarung unterzeichnet, erhält er Lizenzgebühren», erklärt Matthews.

Im Rahmen solcher Vereinbarungen wird das Wissen auf vertraulicher Basis weitergegeben. Wenn dagegen verstossen wird, kann der Inhaber vor Gericht gehen. Anders im Fall eines Verzichts auf geistiges Eigentum: Hier würden keine Lizenzgebühren fällig und der Rechtsweg wäre ausgeschlossen.

Es gibt Konzerne, die freiwillige Vereinbarungen getroffen haben. So hat Astra Zeneca mit dem Serum Institute of India (SII), das auch ein Mandat zur Lieferung von Impfstoffen für die COVAX-Initiative der Weltgesundheitsorganisation hat, einen Vertrag abgeschlossen. COVAX hatte sich zum Ziel gesetzt, bis Ende dieses Jahres zwei Milliarden Impfdosen an Entwicklungsländer zu verteilen, musste aber ihr Ziel wegen Lieferengpässen wiederholt nach unten korrigieren.

Auch Pfizer hat jüngst eine Vereinbarung getroffen, und zwar mit dem Hersteller Biovac in Südafrika: Ab 2022 soll dort mit der lokalen Impfstoff-Produktion für Afrika begonnen werden. Matthews geht davon aus, dass der Druck der WTO auf eine Ausnahmeregelung bei der Entscheidung von Pfizer, eine Zusammenarbeit mit Biovac einzugehen, eine wichtige Rolle gespielt hat.

«Patentschutz ist Teil der Lösung» 

Hauptgegner einer Ausnahmeregelung sind die EU, Grossbritannien und auch die Schweiz, die alle einen starken Pharmasektor haben. »Wir glauben, dass der Patentschutz Teil der Lösung und nicht Teil des Problems ist», sagt der Schweizer WTO-Botschafter Didier Chambovey. «Er ist ein Anreiz für Labors, innovativ zu sein und neue Impfstoffe und Therapeutika zu entwickeln.»

Chambovey erklärt, dass ein Grossteil der Forschungsausgaben vor der Pandemie auf privatem Risikokapital basiert habe. «Und dieses wäre womöglich nicht zur Verfügung gestanden, wenn die Gefahr bestanden hätte, dass die Patentrechte aufgehoben werden.» Zudem hätten Staatsbeiträge die Forschungstätigkeiten verstärkt, insbesondere seit 2020, sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor besteht eine gut funktionierende Partnerschaft, die viel Innovation hervorbringt.»

Chambovey ergänzt, dass es den Unternehmen gelungen sei, die Impfstoff-Lieferungen durch freiwillige Partnerschaften zu erhöhen und so Vertrauen zu schaffen. Zugleich räumt er ein, dass die Schweiz durchaus erkenne, dass ein «Verteilungsproblem existiert und dass die Impfrate in vielen Weltregionen viel zu niedrig» ist.

Der Leiter der Ständigen Mission der Schweiz bei der WTO ist jedoch der Ansicht, dass nicht der Patentschutz das Problem ist. Die UNO verfüge über Instrumente, um das Problem anzugehen, und auch der Abbau von Exportbeschränkungen und die Beseitigung von Hindernissen für den Handel mit wichtigen medizinischen Gütern könnten die Situation verbessern, so Chambovey.

Auch die EU hat andere Ideen zur Verbesserung der globalen Impfstoff-Verso

rgung. Sie legte einen alternativen Plan für Anpassungen der TRIPS-Bestimmungen vor, der Handels- und Produktionsengpässe für Covid-Impfstoffe und -Medikamente beseitigen soll. Kritiker sagen, dass der Vorschlag nicht ausreichend sei.

Auch die Pharmaindustrie wehrt sich gegen den Antrag von Indien und Südafrika. «Eine Ausnahmeregelung ist die einfache, aber falsche Antwort auf ein komplexes Problem», erklärte der in Genf ansässige International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations (IFPMA) im Mai. »Im Gegenteil, er wird wahrscheinlich zu Produktionsunterbrüchen führen und davon ablenken, die wirklichen Herausforderungen bei der Ausweitung der Produktion und des Vertriebs von Covid-19-Impfstoffen weltweit anzugehen: Die Beseitigung von Handelshemmnissen, die Behebung von Engpässen in den Lieferketten und die Verknappung von Rohstoffen und Inhaltsstoffen in der Lieferkette sowie die Bereitschaft der reichen Länder, Impfdosen mit den armen Ländern zu teilen.»

Es geht nicht nur um Impfstoffe

Diese IFPMA-Erklärung kam, nachdem die US-Regierung unter Joe Biden im Mai angekündigt hatte, dass sie – anders als die Trump-Regierung – eine Ausnahmeregelung für Covid-Impfstoffpatente unterstütze.

Nicht erwähnt hat die Biden-Administration Medikamente und Dinge wie «Know-how über komplexe Technologien, Designs für Diagnostika und Beatmungsgeräte sowie alle Urheberrechte, die auch für diese Technologien relevant sind», sagt Matthews.

Dabei seien diese auch wichtig, sagt Michelle Childs von der NGO Drugs for Neglected Diseases. Sie erklärt, dass eine Ausnahmeregelung auch für Anti-Covid-Medikamente und Diagnostika erforderlich sei. Sie befürchtet, dass nebst dem «Impfstoff-Nationalismus» bald auch ein «Therapeutika-Nationalismus» vorherrschen könnte, indem reiche Länder vielversprechende neue Covid-Medikamente vorbestellen.

Der Schweizer Konzern Roche gehört zu den Unternehmen, die über ein von der WHO zugelassenes Covid-Medikament verfügen. Laut Yuan Qiong Hu von Ärzte ohne Grenzen ist dieses Medikament sehr teuer und die Vorräte sind begrenzt. Hu sagt, dass die Entwicklungsländer «alle Mittel» benötigen, um die Pandemie zu bekämpfen, seien es Impfstoffe, Medikamente oder Atemschutzgeräte.

Die WTO-Mitgliedsländer sind zwar noch weit von einem Konsens entfernt, haben sich aber darauf geeinigt, die Gespräche fortzusetzen, um den TRIPS-Rat kurzfristig wieder einzuberufen –möglicherweise bereits Mitte Dezember. Am 29. November forderten UN-Menschenrechtsexperten die Staaten zu entschlossenem Handeln auf, «um sicherzustellen, dass alle Menschen gleichen und allgemeinen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen haben, insbesondere die Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen, die bisher weitgehend ausgeschlossen wurden.» Die Verschiebung der WTO-Ministerkonferenz dürfe kein Grund für eine Verzögerung sein, insbesondere im Hinblick auf die neue Omikron-Variante – sondern «bestätigt die dringende Notwendigkeit, gemeinsame Massnahmen zu ergreifen.»

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