«Staaten gaben der WHO nicht die notwendigen Mittel»
Mit der Ausbreitung des Coronavirus auf allen Kontinenten ist Kritik an der Weltgesundheitsorganisation laut geworden. "Dabei sind es die Staaten, die sich geweigert haben, der WHO mehr Macht und finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen", sagt Antoine Flahault, Direktor des Institute of Global Health an der Universität Genf.
Zu langsam, zu inkohärent, keine Leadership: Das Management der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegen die Coronavirus-Pandemie wird von Regierungen, Wissenschaftlern und weiteren Experten teils heftig kritisiert.
Die schrillsten Töne stammen von US-Präsident Donald Trump. Er will der WHO kurzerhand den Geldhahn zudrehen.
Die Rolle der WHO besteht darin, die globale Federführung im Gesundheitsbereich wahrzunehmen, so die Vorgabe der Vereinten Nationen. Doch die Mitgliedstaaten haben der WHO das Budget beschnitten und ihren Handlungsspielraum eingeschränkt. Und genau das wiege jetzt bei der internationalen Bewältigung der Pandemie schwer, sagt Gesundheitsexperte Antoine Flahault.
swissinfo.ch: Die Weltgesundheitsorganisation erklärte am 12. März den Ausbruch von Covid-19 zu einer Pandemie. Hat sie zu spät reagiert?
Antoine Flahault: Nein, ich glaube nicht, dass es zu spät war. Zunächst einmal taucht der Begriff «Pandemie» gar nicht in den internationalen Regularien für die Gesundheit auf. Er gehört also auch nicht zum regulatorischen Arsenal des WHO-Generaldirektors. Darüber hinaus hatte diese Erklärung keinen sehr starken Einfluss auf die Ereignisse, wussten doch alle, dass wir uns in einem Prozess der Pandemie befanden.
Vielmehr war es eine Gelegenheit, alle Ängste zu zerstreuen, die mit dem Begriff verbunden waren. Ebenfalls war es eine Mobilisierung jener wenigen Länder, die noch behaupteten, es handle sich um eine leichte Grippe.
Warum wurde die Gefährlichkeit des Virus unterschätzt?
China hat das Problem nicht schnell genug an die WHO gemeldet. Peking wartete damit sicherlich mindestens einen Monat ab, und die Reaktion zur Eindämmung der Ausbreitung erfolgte erst spät. Erst am 23. Januar wurden in Wuhan die ersten Massnahmen ergriffen.
Die an China angrenzenden Staaten und Gebiete, namentlich Hongkong, Singapur, Südkorea, Taiwan und Japan, zeichnen sich durch ein sehr schnelles Problembewusstsein aus. Diese Länder hatten Sars und die Vogelgrippe erlebt. Deshalb waren sie sich des Risikos viel stärker bewusst, dass in Südostasien ein Virus auftauchen könnte, das die Atemwege angreift und sich gefährlich ausbreiten könne.
WHO als Trumps neues Feindbild; Beitrag von Radio SRF vom 8. April 2020.
Diese Länder führten sehr schnell Massnahmen ein, um ihr Gebiet möglichst vor dem Eindringen des Coronavirus abzuschirmen.
In Europa hatten die Länder mit Ausnahme von Deutschland anfangs Schwierigkeiten, das Risiko, den Schweregrad und die Übertragbarkeit des Coronavirus abzuschätzen. Bis zum 20. Januar hat die WHO die Haltung der Chinesen übernommen, die behaupteten, dass das Virus nicht von Mensch zu Mensch übertragbar sei. Damit ging wertvolle Zeit für die gesamte internationale Gemeinschaft verloren.
Hätte die WHO also doch schneller reagieren resp. proaktiver agieren sollen?
Die WHO verfügt über ein sehr hohes Mass an interner und externer Expertise. Sie hätte sich mehr darauf verlassen sollen, statt blind der Haltung Pekings zu folgen.
Es hat lange gedauert, bis die WHO eine Expertendelegation nach China schickte. Bei einem Staat, der weniger einflussreich ist als China, wäre dies wahrscheinlich schneller gegangen. Bisher wurde der Expertenausschuss, der den WHO-Generaldirektor berät, nur zweimal einberufen. Dabei hätte das Gremium die Rolle der Taskforces übernehmen können, welche die Regierungen dann selbst eingerichtet haben.
Viele Länder, darunter auch die Schweiz, reagierten erst ziemlich spät, als sich das Virus bereits auf die Nachbarländer auszubreiten begann. Weshalb?
Sicherlich fehlte es an politischem Bewusstsein. Aber es fehlte auch an öffentlichem Bewusstsein: Experten, Journalisten und die Bevölkerung neigten eher zu einem nach-pandemischen als einem vor-pandemischen Ansatz. Dies trifft keineswegs auf die erwähnten Staaten zu, die sich im chinesischen Epizentrum dieser Pandemie befanden – sie sind viel wachsamer geblieben.
Das zeigt sich auch auf den Strassen: Das Tragen von Gesichtsmasken ist seit Sars (der Vogelgrippe von 2002/03, die Red.) bei der Bevölkerung vieler asiatischer Staaten praktisch alltäglich geworden.
Ist für Sie die WHO mit ihrer Rolle als internationale Taktgeberin in der Corona-Pandemie erfolgreich?
Die WHO ist eine zwischenstaatliche, keine supranationale Organisation. Wenn Sie einen Dirigenten wünschen, müssen Sie sich vom Orchester-Management einen Taktstock besorgen. Es ist die Weltgesundheitsversammlung, die dieses Führungsorgan der WHO bildet.
Sie setzt sich aus den Regierungen der 194 Mitgliedsländer zusammen. Die Mitglieder entscheiden jeweils an ihrer Versammlung im Mai in Genf, welche Mittel sie der WHO zur Verfügung stellen. Dabei ist klar, dass die Staaten den Stab nicht der Person anvertrauen wollen, die in dieser Pandemie zum Dirigenten hätte werden können.
Meine Kritik gilt also weniger der WHO selbst als vielmehr den Mitgliedstaaten, die der Organisation keine ausreichenden Führungsinstrumente und Finanzmittel zur Verfügung gestellt haben. Die WHO verfügt über ein Budget, das kaum höher ist als jenes der Genfer Universitätskliniken. Und das reicht nicht aus, um die von ihr erwartete Leadership wahrzunehmen. Und sie hat auch keinerlei Sanktionsbefugnis.
Folglich musste die WHO mit den Mitteln auskommen, die ihr zur Verfügung gestellt wurden. Sie geht mit den Staaten eine Art «Gesundheitsbündnis » ein. Dieses stützt sich auf die bemerkenswert aktiven Regionalbüros. Sie gewährleisten, dass die WHO ihr weltweit anerkanntes wissenschaftliches Knowhow einbringen kann.
Wenn sich die Organisation auf technische Standards und Normen stützt, wird sie von allen gehört. Insbesondere von den ärmsten Ländern, die über kein akademisches Fachwissen verfügen.
Die Medaille aber hat eine Kehrseite: Die WHO ist nicht in der Lage, das Orchester der Nationen zu führen, sie kann nicht die Rolle der Oberbefehlshaberin der Streitkräfte im Kampf gegen grössere Gesundheitskrisen übernehmen.
Welche Lehren sollten die Regierungen aus dieser Pandemie ziehen?
In «Friedenszeiten» wird die WHO mit ihrem sehr hohen Level an Expertise von den Staaten immer wieder gelobt. Im Fall einer grösseren Gesundheitskrise, bei der ein enger Dialog mit den Regierungen nicht mehr ausreicht, wird dieser Mechanismus aber zu einer Schwäche. Es werden nun Empfehlungen erwartet, um die Praktiken in allen Ländern zu harmonisieren.
Die Staaten haben sich nie auf internationale Gesundheitsregulierungen geeinigt, welche die WHO ermächtigen würden, im Krisenfall auch Sanktionen verhängen zu können. Dann, wenn Staaten die Empfehlungen nicht einhalten.
Ebenso verwehrten sie der WHO die Möglichkeit, die Länder darauf zu prüfen, ob sie betreffend Umsetzung der Vorschriften auf dem neusten Stand sind. Die Evaluierung wäre von externer Seite vorgenommen worden.
Die Staaten müssen sich darüber klar werden, dass es in erster Linie an ihnen selber liegt, wenn der Orchesterdirigent nicht über die notwendigen Mittel im Kampf gegen Corona verfügt. Sollten sie sich weiterhin weigern, der WHO im Fall einer grösseren Gesundheitskrise erweiterte Kompetenzen einzuräumen, kann sie den Kampf gegen eine Pandemie nie wirksam koordinieren, harmonisieren und standardisieren. Wir werden weiter eine Organisation haben, die in normalen Zeiten effektiv ist, in Krisenzeiten aber schnell mit Kritik eingedeckt wird.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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