Frankreich gibt Genf Mitschuld an Corona-Verbreitung
Strenges Frankreich trifft auf liberalere Schweiz: Begünstigt diese grosse Kluft die grenzüberschreitende Verbreitung des Virus? Genf wehrt sich gegen Vorwürfe des Nachbarn.
Im Juni zog die Schweiz nach der ersten Pandemie-Welle eine zufriedenstellende Bilanz in Bezug auf ihre politischen und wirtschaftlichen Massnahmen. Die Deep Knowledge GroupExterner Link, eine Denkfabrik und Datenanalysegruppe mit Sitz in Hongkong, platzierte sie sogar an die Spitze ihrer Rangliste der weltweiten Musterschüler. Im August wurde die Schweiz auf den 4. Platz zurückgestuft, derweil Deutschland die Pole-Position einnahm.
Und heute? Das Covid-19-Ranking der Deep Knowledge Group wird laut Projektleiter Luke Zanev wegen einer Umstellung der Methode zwar nicht mehr aktualisiert. Er sei sich aber «sicher, dass die Schweizer Behörden erstklassige Massnahmen ergreifen werden und das Land unter den Top 20 bleiben wird».
Die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigen aber eine andere Realität: Genf führt die ListeExterner Link der am stärksten vom Virus betroffenen Regionen in Europa an, gefolgt von vier französischsprachigen Kantonen. Als Folge davon schauen die Nachbarländer sorgenvoll auf die Schweiz, wo es trotz hoher Fallzahlen keine einheitlich strengen Massnahmen gibt.
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Savoyen und Hochsavoyen stark betroffen
Derweil schloss Frankreichs Premierminister Jean Castex am vergangenen Donnerstag jede Lockerung der Massnahmen in der Grande Nation vor dem 1. Dezember aus. Dies, obwohl die Ansteckungsraten in Frankreich niedriger sind als in der Schweiz.
Die InzidenzrateExterner Link der letzten zwei Wochen (Zahl der neuen Fälle pro 100.000 Einwohner) liegt in Frankreich bei 906, während sie in der Schweiz 1108 erreicht. Die Test-Positivitätsrate liegt in Frankreich bei 19,5 Prozent, verglichen mit 26 Prozent in der Schweiz.
Im Departement Savoyen übertrifft die InzidenzrateExterner Link für die letzten sieben Tage allerdings alle anderen Regionen Frankreichs (mehr als 700 positive Fälle pro 100’000 Einwohner innert einer Woche). Das benachbarte, an die Schweiz angrenzende Department Haute-Savoie folgt dicht dahinter. Zufall?
«Der Verkehr zwischen Genf und dem benachbarten Frankreich hat zweifellos einen direkten Einfluss auf die Zunahme der Epidemie in der Haute-Savoie», sagt Pierre-Jean Ternamian, Präsident des Regionalverbands der Gesundheitsfachleute Auvergne-Rhône-Alpes, gegenüber der Tageszeitung Le Temps. «Die Grenzgänger gehören zu den Faktoren, die die Verbreitung des Virus begünstigt haben», fügt der Arzt hinzu und bedauert die «halbherzigen Massnahmen» und die «Verzögerung» der Schweiz im Kampf gegen die Pandemie.
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Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
«Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Schuldzuweisungen», entgegnet der Genfer Staatsrat Mauro Poggia. Dass die Grenzübergänge offen bleiben, liege im Interesse beider Länder. Der Gesundheitsminister vergisst nicht, wie die Schliessung der Grenzen in der ersten Welle die Wirtschaft auf beiden Seiten belastet hat – trotz Ausnahmen für Grenzgänger.
In Genf lag die Inzidenzrate in den letzten sieben Tagen bei etwa 1300 pro 100’000 Einwohner – Tendenz sinkend. «Genf hat die strengsten Massnahmen in der Schweiz verhängt», sagt Poggia, «und Bars und Restaurants sowie Geschäfte des Nicht-Täglichen-Bedarfs geschlossen. Unsere Massnahmen unterscheiden sich nicht so sehr von der Politik in Frankreich.»
Noch strenger zu sein, werde schwierig, meint Poggia, «in einer Zeit, in der die Nachbarkantone auf jegliche Eindämmung verzichten und die Genfer in den Geschäften in der Waadt einkaufen gehen.» Der Staatsrat lobt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die gut funktioniere.
Er stehe alle zwei Wochen im Kontakt mit den französischen Behörden. In Genf arbeiten rund 100’000 Grenzgänger, und die Hälfte der 12’000 Angestellten der Genfer Universitätsspitäler (HUG) sind französische Staatsbürger.
«Grenzen müssen offen bleiben»
«Die Region Hochsavoyen hat die Dynamik einer Wirtschaftsmetropole», betont die Abgeordnete Marion Lenne von der Partei La République en Marche von Präsident Emmanuel Macron. In die Kontroverse über die grenzüberschreitenden Verantwortlichkeiten will sie sich nicht einmischen.
Nur so viel: Man müsse die Zusammenarbeit intensivieren, um in Krisenzeiten à la carte Lösungen parat zu haben. «Vor allem aber dürfen wir die Grenzen nicht schliessen», sagt die Parlamentarierin.
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