Kühne Vision: Der Ständerat wird Schweizer «Staatslabor»
Visionäre Inputs sind in der Schweizer Politik nicht gerade an der Tagesordnung. Nun aber liegt genau ein solcher auf dem Tisch: Der Ständerat, die kleine Kammer des Schweizer Parlaments, soll als eine Art Zukunftswerkstatt kommende politische Fragen identifizieren und mögliche Antworten liefern. Absender ist der Berner Politologe Adrian Vatter.
«Die Bremse der Nation!», lautet die härteste Kritik am Schweizer Ständerat. In jüngster Zeit hört man auch den Vorwurf, die kleine Kammer werde wie die grosse von Parteien beherrscht.
Verteidiger des Ständerats loben dagegen die Konstanz seiner Arbeit jenseits kurzfristiger Schwankungen der Öffentlichkeit. Und sie rühmen seine Bereitschaft zum Kompromiss, der die schweizerische Konkordanz-Demokratie stärke.
«Historisches Fossil oder Zukunftsmodell?» hiess im Juli 2019 eine wissenschaftliche Tagung zur kleinen Kammer, die im traditionsreichen Halbrund des Ständeratssaals stattfand. Sie vereinte in- und ausländischen Experten.
Daraus haben die beiden Politikwissenschafter Sean Mueller (Universität Lausanne) und Adrian Vatter (Universität Bern) jetzt einen Sammelband mit zehn Original-Beiträgen geformt. Erstaunlich: «Der Ständerat»Externer Link ist die erste Gesamtdarstellung in der Geschichte der 172-jährigen Institution.
Schweizer Zweikammer-Parlament im globalen Vergleich
Weltweit kennen die Parlamente zwei Ausprägungen: das Einkammer- und das Zweikammer-System.
● Erstere gehen davon aus, in einer Demokratie müsse das Volk vertreten sein.
● Letztere ergänzt das Parlaments- mit dem Föderalismusprinzip.
Weltweit hat rund ein Drittel der Staaten ein Einkammersystem. In etablierten Demokratien wie der Schweiz ist das allerdings genau umgekehrt.
Auch in der Ausgestaltung beider Kammern besteht Vielfalt.
● In Ländern wie der Schweiz, aber auch Australien, Deutschland und den USA sind die Kompetenz symmetrisch und die Zusammensetzung verschieden.
● Anders ist das in Ländern wie Grossbritannien, Irland, Österreich und Belgien. Dort sind die Aufgaben verschieden, dafür ist die parteipolitische Ausrichtung ähnlich.
Ein Vorwort aus der Feder von alt Ständeratsratspräsident Jean-René Fournier wertet das Werk auf. Namentlich ist er erfreut, dass man sich nach dem Nationalrat nun auch mit dem Ständerat auseinandersetzt. Das sei nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil die Schweiz ein ausgeprägtes Zwei-Kammer-Parlament habe (siehe Kasten 1).
Evaluierung der Reformvorschläge der letzte 50 Jahre
Das kürzlich erschienene Buch beansprucht nicht weniger als die erste Gesamtdarstellung der kleinen Kammer in der Schweiz zu sein. Sein innovativstes Kapitel stammt von einem der Herausgeber. Adrian Vatter, Co-Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, hat die vielfältigen Reformdiskussionen zum Ständerat der letzten 50 Jahren unter die Lupe genommen und sie neu bewertet.
Zwei Stichworte stehen am Anfang der Ausführungen: Einerseits sei die föderalistische Vertretung im Bund nicht eindeutig genug. Anderseits bilde die kleine Kammer die gesellschaftliche Interessenstruktur zu einseitig ab.
Das hat seinen Widerhall in der Praxis. Mit dem «Haus der Kantone» in der Bundesstadt hat der Ständerat im letzten Vierteljahrhundert eine eigentliche Konkurrenz bekommen. Denn es organisiert die Spitzen der Kantonsregierung und Fachdirektionen jenseits der kleinen Kammer. Umgekehrt haben 2019 namentlich die Frauen ihre zahlenmässige Untervertretung im Ständerat beklagt. Immerhin konnten sie sie bei den jüngsten Wahlen wenigstens teilweise verringern.
Doch Vatter bleibt nicht bei solchen Entwicklungen und Ereignissen stehen. Vielmehr evaluiert er die 10 Reform-Modelle, die bisher vorgebracht wurden (siehe Kasten 2). Sie betreffen Reformen der Regeln zur Repräsentation resp. zu den Entscheidungen. Und Vatter schreckt nicht davor zurück, neue Institutionen vorzuschlagen, um den Ständerat zu ersetzen.
Auf der Suche nach einem ganz neuen Ständerat
Vatters äusserst systematisches Vorgehen zeigt, dass keiner der bisherigen Vorschläge alle aufgelisteten Defizite behebt. Einige stechen dennoch heraus. In ihrer Kombination könnten sich die Lösung ergeben.
Da ist zuerst die Personalunion von Regierungsrat und Ständerat. Das (deutsche) «Bundesratsmodell» soll nach Vatter den Kantonseinfluss auf die Bundespolitik vereinfachen und stärken. Denn heute bestehen mit den Kantonsregierungen, dem Haus der Kantone und dem Ständerat gleich drei Institutionen nebeneinander.
Um bei einer solchen Reform die Überbelastung der heutigen Regierungsmitglieder zu verhindern, schlägt der Autor vor, in jedem Kanton einen kantonalen Aussenminister oder eine kantonale Aussenministerin der Regierung zu wählen. Der hätte vollamtlich Einsitz im neuen Ständerat. Das ergäbe den ersten der beiden Sitze.
Loswahl
Das Modell des Minderheitenrats soll für den Experten die gesellschaftlichen und kulturellen Vertretungslücken im eidgenössischen Parlament ausgleichen. Was 1848 entstanden ist, um die Katholiken als politische Minderheit im neuen Bundesstaat zu schützen, bewirkt heute aber die Übermacht von Männern im höheren Alter und meist bürgerlicher Herkunft. Die Wahl durch das Los könnte das effektvoll verhindern. Denn das Los bedeutet, dass der ausgleichende Zufall bestimmt. So wäre der zweite Sitz im Ständerat besetzt.
Schliesslich schlägt Vatter auch eine neue Aufgabe des Ständerats vor. In Abgrenzung zum demokratisch gewählten Gesetzgeber, dem Nationalrat, möchte er eine «föderative Antizipative». Das tönt abstrakt, macht aber Sinn: Am neuen Ständerat wäre es, Fragen der künftigen Politik zu verhandeln und zu denkbare Lösungen zu verdichten. Dazu wäre er eigentliche vorherbestimmt. Denn die Kantone sind ein grosses Feld für Experimente und in institutionellen Fragen häufig vorangegangen.
Nach Vatter würde so die Gesetzgebung im Nationalrat nicht einfach den hängigen Problemen hinten nachrechnen. Vielmehr könnte sie kommende Entwicklungen rechtzeitig aufnehmen und in Gesetze giessen.
Nicht Reform für morgen, aber Vision für übermorgen
Der Berner Politikwissenschafter macht sich keine Illusion: Sein umfassender Umbau der kleinen Kammer wird bei der Neuwahl des Ständerats 2023 nicht umgesetzt sein. Er nennt ihn denn auch eine langfristige Vision- eine stark vernachlässigte Grösse in der Schweizer Politik!
In Vatters Worten hätte sie gleich drei Vorteile: die Verarbeitung von Konflikten zu verbessern, heutige und künftige Minderheiten zeitgemäss zu integrieren und so die Politik neu zu begründen.
Fazit: Vatters originelle Ideen qualifizieren das neue Buch zum Ständerat nicht nur als aktuelle Standortbestimmung. Sie erweitert das Werk auch um eine Perspektive, die es wert ist, gründlich diskutiert zu werden.
Reform der Vertretungsregeln
● Proporzwahl der Ständeräte
● Gewichtung der Ständeratssitze nach Bevölkerungsgrössen
● Personalunion von Ständerat und Regierungsräten
● Bestellung der Ständeräte im Losverfahren
Reform der Entscheidungsregeln:
● Eine Aufgaben- und Funktionsteilung zwischen beiden Parlamentskammern
● Der Vorrang der Ersten vor der Zweiten Kammer
● Der Vorrang der Kammer mit der stärkeren Mehrheit
Alternative Modelle zum jetzigen Zweikammersystem:
Einkammersystem mit qualifizierten Mehrheitsentscheidungen
● Einkammersystem mit Ausbau direktdemokratischer Instrumente in den Kantonen
● Neuartiger Minderheiten- und Zukunftsrat als Zweite Parlamentskammer.
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