«Die Grenzschliessungen sollten nicht zu weniger Solidarität führen»
Die Coronavirus-Pandemie hat die europäischen Staaten dazu gezwungen, ihre Grenzen zu schliessen. Es gilt: Jeder schaut zuerst einmal für sich. Dieser Mangel an Solidarität könnte seine Spuren hinterlassen, sagt Gilles Grin, Direktor der Jean-Monnet-Stiftung für Europa.
Auf das sich ausbreitende Coronavirus reagieren alle Staaten gleich: Mit Grenzschliessungen, Bewegungskontrollen und dem Einfrieren der internationalen Zusammenarbeit. Diese Abschottung ist auch in der Europäischen Union (EU) und im Schengen-Raum, dem die Schweiz angehört, sichtbar.
Dieser Mangel an Kooperation und Solidarität zwischen den Staaten führt zu ganz konkreten Problemen: Überfüllte Spitäler sind nicht in der Lage, Patienten in verfügbare Betten auf der anderen Seite der Grenze zu verlegen, und die Versorgung mit medizinischer Ausrüstung, die zur Bekämpfung der Pandemie benötigt wird, wird verlangsamt oder sogar unterbrochen.
Eine Krise dieses Ausmasses erschüttert die Institutionen zwangsweise. Aber es ist wichtig, dass die Solidarität zwischen den Staaten aufrechterhalten wird, wie Gilles Grin findet. Er ist Direktor der Jean-Monnet-Stiftung für EuropaExterner Link in Lausanne.
swissinfo.ch: Inwieweit beeinträchtigt die Reaktion der Staaten auf den Kampf gegen das Coronavirus das Funktionieren der EU und des Schengen-Raums?
Gilles Grin: Die Bewältigung einer solchen Krise erfordert in ihrer dramatischsten Phase alle Energie. Der Betrieb der europäischen Institutionen wurde auf den Kopf gestellt. Wie in den einzelnen Staaten wurde die Arbeit des Parlaments vorübergehend eingefroren. Auch der Schengen-Raum ist vorerst gestoppt, wie es die Verträge erlauben.
swissinfo.ch: Jedes Land ist mit sich selbst beschäftigt und schliesst seine Grenzen: Ist dies in einer Krise normal oder ein Zeichen der Zerbrechlichkeit einer supranationalen Regierung wie der EU?
G.G.: Es ist normal, dass ein Virus, das für gefährdete Menschen verheerend ist und soziale Distanz erfordert, die Funktionsweise der Gesellschaft aus dem Gleichgewicht bringt. Dies geschieht innerhalb der Staaten, und erst recht zwischen ihnen. Eine Abschottung, insbesondere die Schliessung der Grenzen, ist in einer Gesundheitskrise dieses Ausmasses unabdingbar.
Indem die EU die Aussengrenzen des Schengen-Raums beschloss, haben die Mitgliedstaaten zusammen das gleiche getan. Die ganze Welt tut mehr oder weniger dasselbe.
swissinfo.ch: Gibt es in diesen Zeiten der Pandemie noch Solidarität zwischen den Staaten?
«Der Mangel an Solidaritätsreflex zwischen den europäischen Staaten reiht sich ein in eine ganze Liste von Bewährungsproben in der Vergangenheit. Es besteht die Gefahr, dass dies seine Spuren hinterlässt.»
G.G.: Da liegt das Problem. In einer Notsituation ist die Versuchung des Alleingangs leider gross. Soziale Distanz und die vorübergehende Schliessung der Grenzen sollten nicht zu einem Mangel an Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten führen.
Doch das europäische Konstrukt hat noch nicht das Stadium einer Schicksalsgemeinschaft erreicht, in der die wesentlichen Fragen von Leben und Tod im Falle eines Sturms behandelt werden können.
Gesundheit ist weitgehend eine nationale Kompetenz. Die Staaten haben das Sagen. Die Tendenz der letzten Jahre bestand darin, das Erreichte zu bewahren, ohne jedoch die notwendige Solidarität zu fördern.
swissinfo.ch: Besteht die Gefahr, dass diese Pandemie die Funktionsweise und die Regierungsführung der EU in Zukunft beeinträchtigt?
G.G.: Der Mangel an Solidaritätsreflex zwischen den europäischen Staaten reiht sich ein in eine ganze Liste von Bewährungsproben in der Vergangenheit: Ich denke zum Beispiel an die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise oder die Migrationskrise. Es besteht die Gefahr, dass dies seine Spuren hinterlässt. Die Dauer der Krise wird zweifelsohne ein Schlüsselfaktor sein.
Umgekehrt besteht die Hoffnung, dass diese Krise den Europäern zeigt, dass viele Gefahren aller Art ausserhalb Europas liegen und dass der beste Weg, ihnen zu begegnen, darin besteht, geschlossen zu handeln.
Europa muss sich schützen. Um dies zu gewährleisten, brauchen wir gemeinsame Institutionen, die stark und legitim genug sind und so ein Gemeinschaftsinteresse entstehen lassen.
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch