Schweizer Parlament meldet sich für Krisenbewältigung zurück
Mit der Verkündung der "ausserordentlichen Lage" hat der Bundesrat in der Coronakrise die alleinige Entscheidungsgewalt übernommen. Darauf brach das Parlament die Frühlingssession ab und schickte sich selbst in die Ferien. Jetzt tritt es wieder auf die politische Bühne.
In der Sondersession zur Coronakrise wollen die Volksvertreterinnen und -vertreter Anfang Mai das Heft wieder in die Hand nehmen. Und auch Entscheide korrigieren, welche die Regierung per Notrecht fällte.
Auf dem Papier hatte alles seine Richtigkeit: Die Notverordnungen der Regierung sind durch das Epidemiengesetz abgestützt. Dieses ermächtigt den Bundesrat, die ausserordentliche Lage auszurufen – was am 16. März geschah – und fortan ohne Kontrolle durch das Parlament zu regieren.
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Das neue Coronavirus hat also auch den demokratischen Institutionen der Schweiz einen schweren Schlag versetzt: Das Prinzip der Checks and Balances, der Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle – eine zwingende Voraussetzung für jede Demokratie –, war von einem Tag auf den anderen ausser Kraft. Begründung für den freiwilligen Lockout: die beiden Ratssäle sind zu klein, um die Abstandsregel von zwei Meter zwischen den Abgeordneten zu befolgen.
Nach einer rund zweiwöchigen Phase des Verschwindens von der Bildfläche des Krisenmanagements, begannen Politikwissenschaftler und auch einzelne Parlamentarier, den Lockout zu kritisieren.
Jetzt erholt sich Legislative zusehends von diesem Schlag, und sie ist jetzt daran, die Rolle als politische Institution der Demokratie Schweiz wieder wahrzunehmen. Vom 4. bis 8. Mai findet auf dem Messegelände der Stadt Bern eine ausserordentliche Sitzung zum Thema Pandemie statt. In der geräumigen Messehalle können die Parlamentsmitglieder mit dem nötigen Abstand tagen.
Die beiden Kammern haben die Aufgabe, die von der Regierung beschlossenen dringlichen Kredite zu genehmigen sowie die per Notverordnung erlassenen Massnahmen zu überwachen und nötigenfalls zu korrigieren.
Die Session ist tatsächlich ausserordentlich: Die Beschlüsse der 246 Parlamentsmitglieder unterliegen nicht wie üblich dem Referendum. Das heisst, sie treten unmittelbar in Kraft und können umgesetzt werden.
Parallelwelt in Sachen Notrecht
Die Juristinnen und Juristen des Bundes haben die Rolle der Behörden in einer ausserordentlichen Situation abgeklärt. Gemäss Verfassung haben Exekutive und Legislative parallele Kompetenzen: Beide können notfalls Verordnungen erlassen. Aber: «Die vom Parlament beschlossenen Massnahmen haben Vorrang vor denen des Bundesrats.»
Die Büros der beiden Kammern sowie die verschiedenen Kommissionen haben bisher den Dialog mit der Regierung gesetzt, um ein paralleles oder zweigleisiges Zwangsrecht zu vermeiden. Das bedeutet, dass die Zahl der Treffen zwischen Mitgliedern der Legislative und der Exekutive in den letzten Wochen zugenommen hat und die Liste der Anfragen wächst.
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Die Kommissionen haben ihre Arbeit wieder aufgenommen und bereits eine ganze Reihe von Empfehlungen verabschiedet. Mit ihnen sollen Entscheidungen korrigiert werden, die sie für fehlerhaft oder ungerecht halten.
Ein paar Korrekturen hat der Bundesrat bereits umgesetzt. So zum Beispiel die Gewährung von Lohnausfall-Entschädigungen an Selbständigerwerbende, die indirekt vom Lockdown zur Bekämpfung des Coronavirus betroffen sind. Ein weiteres Beispiel ist, dass Supermärkte und kleine Geschäfte nun am selben Tag ihre Geschäfte öffnen können. Damit soll die Benachteiligung der Fachgeschäfte verhindert werden.
Andere Korrekturen stehen dagegen noch aus. So insbesondere die Einführung einer finanziellen Unterstützung für Kinderkrippen und häusliche Pflegedienste, eine Aufstockung des Budgets 2020 für humanitäre Hilfe um 100 Mio. Franken, eine Unterstützung für den Tourismussektor in der Höhe von 27 Mio. Franken sowie eine Strategie zur Deckung der massiven zusätzlichen Kosten der Arbeitslosenversicherung.
Fülle von Anträgen
In den Kommissionen haben die Mitglieder aufs Gaspedal für eine schnellere wirtschaftliche Erholung gedrückt. Sie fordern den Bundesrat auf, die Öffnung der stillstehenden Betriebe vorzuverlegen. Die Regierung soll ebenfalls ein Alternativkonzept entwickeln, damit die öffentlichen Institutionen ihre Tätigkeit schrittweise wieder aufnehmen können. Vorgabe dabei ist, dass die Exekutive den Kantonen mehr Freiheiten einräumen muss.
Einzelne Anträge gehen weit: So sollen Unternehmen, die vom Bund Entschädigungen für Kurzarbeit beziehen, im laufenden und im nächsten Jahr keine Dividenden an ihre Aktionäre auszahlen dürfen.
Ein weiterer Antrag verlangt, dass Versicherungsgesellschaften Entschädigungen auszahlen, obwohl sie laut Policen nur im Fall einer Epidemie in der Pflicht stehen würden, nicht aber bei einer Pandemie.
Drohkulisse
Dies ist aber nur eine kleine Auswahl aus den Anträgen, über die das Parlament an der ausserordentlichen Sitzung entscheiden will. Finden sie eine Mehrheit, muss die Regierung ihre Bestimmungen entsprechend ändern.
Dass eine Parlamentskommission eine eigene, also parallele Notverordnung vorlegt, dazu ist es bisher nicht gekommen. Das kann sich aber noch ändern, wie die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats klar macht: Sie behält sich ausdrücklich solche vor, sollten die eingereichten Anträge nicht durchkommen.
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Coronavirus: Die Situation in der Schweiz
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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