Paris und Bern: Zwei Arten, gegen die Pandemie anzukämpfen
"Wir machen keine Sensationspolitik", sagte der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset vor gut einer Woche in Bezug auf die französische Politik. Die Krise akzentuiert zwar die unterschiedlichen Ansätze der beiden Länder, könnte aber auch Brücken zwischen ihnen schlagen.
Am Montagabend führte der französische Premierminister Edouard Philippe die Richtlinien für die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung aus, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Mit den Kindern spazieren gehen oder Sport treiben darf man noch immer, jedoch nur «im Umkreis von einem Kilometer von zu Hause weg, maximal eine Stunde lang, allein und einmal am Tag», wie er ausführte.
Es ist eine Tatsache, dass die Republik zentralisiert ist. Aber die aktuelle Pandemie verzerrt die senkrechte Richtung der Macht zur Karikatur. Für einen täglichen Spaziergang oder einen Einkauf muss jede Bürgerin und jeder Bürger im Besitz einer ordnungsgemäss ausgefüllten «Ausnahmefall-Reisebescheinigung» sein.
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Wer diese vergisst, riskiert ein Bussgeld in Höhe von 135 Euro. Am Dienstag konnte man in einem Lebensmittelladen im Zentrum von Paris eine Dame hören, die andere Kunden fragte: «Habe ich das Recht, rauszugehen, wenn ich nicht jogge?»
Ganz anders in der Schweiz, wo trotz Regeln dennoch weniger Zwang herrscht, auch wenn Versammlungen von mehr als fünf Personen hierzulande verboten sind und die Polizei eine Geldstrafe von 100 Franken verhängen kann, wenn die Regeln nicht eingehalten werden.
In der Schweiz vertraut man mehr in die Eigenverantwortung, ganz nach alten protestantischen Grundsätzen. Es gilt zwar keine Ausgangssperre, aber die Strassen sind fast gleich menschenleer wie in Frankreich.
Gegenseitiges Unverständnis
Die Pandemie-Krise hat sich noch nicht zwischen den beiden Systemen «entschieden». Während die Zahl der Infizierten in der Schweiz im Verhältnis zur Bevölkerung höher ist – 938 pro Million im Vergleich zu 296 in Frankreich –, scheint die Sterblichkeitsrate niedriger zu sein: weniger als 1% der gemeldeten Fälle, verglichen mit 4,3% in Frankreich. Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen, da die Zahl der gemeldeten Fälle nicht wirklich das Ausmass der Pandemie widerspiegelt.
«Vielleicht wird uns die Zukunft zeigen, wer Recht und wer Unrecht hatte», sagt Claudine Schmid, eine ehemalige Auslandschweizer-Abgeordnete in Frankreich, die heute im Kanton Zürich lebt.
«In Frankreich ist die soziale und kulturelle Vielfalt stärker ausgeprägt als in der Schweiz. Wenn die Regierung die Einschränkungsmassnahmen weiter verstärkt hat, dann deshalb, weil sie in bestimmten Vierteln, vor allem in den Vorstädten, wo ein Teil der Bevölkerung nur ungern eingeschlossen bleibt, nicht ausreichend respektiert wurden. Und das ist verständlich: Die Wohnungen dort sind klein und werden oft von grossen Familien bewohnt.»
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Diese Unterschiede in der Politik der beiden Nachbarstaaten geben manchmal Anlass zu Unverständnis. «Was wir in Frankreich tun, ist nutzlos, solange die Schweiz nicht die gleichen Massnahmen anwendet wie wir», behauptet der hochsavoyische Senator Loïc Hervé.
Angesichts der Tatsache, dass in Genf keine Ausgangssperre gilt, arbeiten Zehntausende von Grenzarbeitern weiterhin in der Calvinstadt und laufen Gefahr, das Virus nach Frankreich zurückzubringen. «Wir müssen die Schweizer in die Verantwortung ziehen. Ich sagte dem Minister, dass wir ihnen sehr wohl drohen könnten, die französischen Massnahmen auf Grenzarbeiter anzuwenden», sagt er.
Zwei Länder, zwei Ansätze
Doch Bern lehnt die «Sensationspolitik» ab, wie Bundesrat Alain Berset am Freitag, 20. März, erklärte. «Zu denken, dass alles von oben entschieden werden kann und dass alle damit einverstanden sind, funktioniert nicht», betonte der Schweizer Gesundheitsminister.
Betriebsschliessungen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, wirtschaftliche Unterstützungsmassnahmen: Bern hat sich dennoch vorsichtig in Richtung eines zentralisierten Systems gewagt, das sich die Schweiz nicht gewohnt ist und in dem das Bundesrecht vor dem kantonalen Recht steht.
«Der Bundesrat muss sehr darauf achten, die Unterstützung der Kantone und der öffentlichen Meinung zu behalten», sagt François Nordmann, ehemaliger Schweizer Botschafter in Frankreich.
Es sind die französischsprachigen Kantone, die von der Epidemie besonders betroffen sind. Wegen ihnen kam Bern unter Handlungsdruck. Trotz des Zögerns der deutschsprachigen Kantone, wie die Zeitung Le Temps feststellt. «Der Bundesrat hat sich für eine Politik der kleinen Schritte entschieden, um den Schweizer Föderalismus nicht zu überrumpeln», sagt der Freiburger Historiker Alain-Jacques Czouz-Tornare.
Es sei vor allem darum gegangen, den Föderalismus nicht zu verletzen. Und den Wirtschaftsliberalismus. «In diesem Land dreht sich alles um die Wirtschaft», sagt der Spezialist für die Französische Revolution.
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«Der Kanton Freiburg hat beschlossen, die Schulen bis Ende April zu schliessen, während der Bund plant, die Schülerinnen und Schüler bis zu den Osterferien Mitte jenes Monats vond er Schule auszuschliessen», betont Czouz-Tornare. Details, welche die Unterschiede in der interregionalen Sensibilität für diese Krise aufzeigen. Etwas, was in der einigen und unteilbaren Französischen Republik undenkbar ist.
Vervielfachung der Komitees
Bern verlässt sich auf die Kantone, das Risiko der Verbreitung des Virus zu beurteilen, besonders in den Grenzgebieten. Die Bundesbehörden konsultieren auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG).
In Frankreich hat sich Emmanuel Macron mit einem Bataillon von Experten umgeben, die ihn bei seinen einsamen Entscheiden unterstützen sollen. Anfang März wurde ein «Conseil Scientifique (CS)», eine wissenschaftliche Kommission, eingerichtet, die eben erst eine Verlängerung der Ausgangssperre bis Ende April empfohlen hat.
Zusätzlich zu diesem Rat ist seit Dienstag ein Ausschuss für Forschungsanalyse und Expertise (Care) hinzugekommen, dem mehrere Mitglieder angehören, die bereits Teil der ersten Kommission sind. «Die Rollenverteilung ist sehr klar», erklärte die Generaldirektion für Gesundheit gegenüber der Zeitung Le Figaro. «Der CS muss sich auf Fragen der Lehre konzentrieren. Und Care wird sich mit viel konkreteren Themen befassen.»
Ist es die französische Leidenschaft für beratende Kommissionen, deren Meinungen selten gehört werden? Es sei eine Ironie, «aber ich sehe in der Schweiz nichts Ähnliches wie eine wissenschaftliche Kommission», sagt der Historiker Czouz-Tornare. Oder ein unabhängiges Gremium, das auf Notfallmassnahmen wie die sofortige Schliessung der Grenzen zu Italien hätte hinweisen können.
Einschränkung der Bewegungsfreiheit
In der Schweiz «drängt der Bundesrat die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, vor allem kranke Menschen und Menschen über 65 Jahre». Nur diejenigen, die zur Arbeit oder zum Arzt gehen müssen, einkaufen gehen oder jemand anderem helfen müssen, sollten ihre Wohnung verlassen.
Seit dem 21. März sind Versammlungen von mehr als fünf Personen verboten. Wer dagegen verstösst, muss mit einer Geldstrafe rechnen. Darüber hinaus sind Arbeitgebende im Baugewerbe und in der Industrie verpflichtet, die Empfehlungen des Bundes zu Hygiene und «Social Distancing» zu befolgen.
In Frankreich sind Aktivitäten draussen verboten, ausser in folgenden Fällen: Pendeln zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, wenn sie für die Ausübung von Tätigkeiten, die nicht als Telearbeit organisiert werden können, unerlässlich sind; unerlässliche Einkäufe; dringende familiäre Gründe. Einzig erlaubt sind kurze Ausflüge, maximal eine Stunde pro Tag, die den Radius von einem Kilometer um die Wohnung herum nicht überschreiten.
(Übertragung aus dem Französischen: Joëlle Weil)
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