«Das Dublin-Abkommen ist unausgewogen und ineffizient»
Die EU muss endlich ein Konzept für eine nachhaltige und solidarische Flüchtlingspolitik entwerfen und die Flüchtlingsprobleme an der Wurzel anpacken. Diese Meinung vertritt der italienische Flüchtlingsexperte Ferruccio Pastore: "Man kann Afrika nicht sich selbst überlassen, auch im Interesse von Europa."
Ferruccio Pastore leitet das Internationale und europäische Forum für Migrationsforschung in Turin (FIERI) seit 2009. Dieses Institut arbeitet auch mit dem Schweizer Forum für Migrationsfragen der Universität Neuenburg zusammen.
swissinfo.ch: Dank der Operation Mare Nostrum konnten mehr als 150’000 Personen im Mittelmeer gerettet werden. Trotzdem stellt dieser Ansatz keine langfristige Lösung dar. Wie sollte die EU auf das Migrationsproblem reagieren?
Ferruccio Pastore: Es ist klar, dass Mare Nostrum keine dauerhafte Lösung darstellt. Es war ein Pflaster für eine riesige Wunde. Und das reicht eben nicht. Im letzten Jahr hat sich die Situation in Ländern wie Syrien, Eritrea oder Libyen dramatisch verschlechtert. Dies hatte zur Folge, dass viele Menschen geflohen sind. Dazu kommt, dass Libyen mit Italien Rückführungsverträge anwandte, solange Muammar al-Gaddafi an der Macht war. Davon profitierte ganz Europa. Nun gibt es in Libyen keinen Staat mehr, der gegenüber Europa wie ein Schutzwall fungiert. Dabei ist zu bedenken, dass dieser Schutzwall nicht gerade auf europäischen Standards gebaut war.
Aus diesem Grund wird in Europa über mutigere, nachhaltigere und langfristigere Lösungen in der Migrationspolitik diskutiert. Bisher ist es aber nur bei Diskussionen geblieben.
Die EU sollte ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht dafür einsetzen, die Probleme an der Wurzel anzupacken, das heisst bei humanitären und politischen Krisen präventiv eingreifen, wie etwa in Eritrea. Zudem sollte die EU einen Beitrag zur Sicherheit in allen Ländern der Region leisten, damit die Einwohner im eigenen Land bleiben können.
Ich bin auch überzeugt, dass alle Länder in Afrika und im mittleren Osten, die eine eindrückliche Zahl von Flüchtlingen aus Syrien aufgenommen haben, stärker unterstützt werden müssten. Der Libanon bricht förmlich unter der Last der Flüchtlinge zusammen. Da kann Europa nicht einfach nur zuschauen. Ein Viertel der Einwohner im Libanon sind Flüchtlinge. Das wäre, wie wenn in Italien 15 Millionen und in der EU 125 Millionen Flüchtlinge leben würden.
Mehr
Wer rettet jetzt die Migranten aus dem Mittelmeer?
swissinfo.ch: Es wird auch darüber gesprochen, in Afrika «Aussenstellen» der EU einzurichten, bei denen Asylanträge gestellt werden können, ohne bis nach Europa kommen zu müssen. Was halten Sie von dieser Idee?
F.I.: Es ist wichtig, alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, welche einen Schutz von Flüchtlingen garantieren. Der erwähnte Vorschlag, der unter anderem vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR gemacht wurde, ist sehr ehrgeizig, stösst aber auf grosse politische, juristische und operative Hindernisse.
Nehmen wir einmal an, dass die Sicherheitsprobleme gelöst wären, die mit der Eröffnung solcher europäischer Asylzentren in Libyen oder dem Sudan verbunden sind. Diese Länder würden dann wohl von Asylbewerbern überrannt. Selbst wenn diese Länder diesen Ansturm bewältigen würden, stellt sich die Frage, wie das Problem gelöst werden könnte? Es gäbe offiziell anerkannte Flüchtlinge – vielleicht 10 bis 20 Prozent -, die dann ganz legal nach Europa reisen könnten. Die europäischen Länder müssten sich in diesem Fall auf einen Verteilschlüssel einigen. Und die verbleibenden 80 bis 90 Prozent? Würden diese auf ihren europäischen Traum verzichten? Oder anders gesagt: Die illegale Migration wird man mit solchen Aussenstellen in Afrika nicht stoppen.
Damit will ich aber nicht sagen, dass eine solche Lösung von vorneherein ausgeschlossen werden sollte. Man muss alle Möglichkeiten abklopfen, denn es gibt keine pfannenfertigen Lösungen in der Migrationsfrage.
Die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission mit der Italienerin Federica Mogherini als Aussenbeauftragte der Europäischen Union ist ein ermutigendes Zeichen. Zumindest theoretisch lässt sich an eine Migrationspolitik denken, in der Prävention und Konfliktlösungen mitgedacht werden und damit auch die entsprechenden Migrationsströme.
swissinfo.ch: Das gegenwärtige politische Klima scheint aber keineswegs günstig zu sein für differenzierte Überlegungen in Bezug auf das Thema der Migration…
F.I.: Die populistische Rechte fordert, die Grenzen dicht zu machen, das Schengen-Abkommen auszusetzen und die Hilfsoperationen einzustellen. Wenn man auf diese Forderungen eingehen würde, wäre es kontraproduktiv. Kurzfristig würde es sich vielleicht auszahlen. Aber Afrika befindet sich an einem Scheideweg. Dieser Kontinent hat ein enormes positives, aber auch viel negatives Potential. Im Interesse von Europa kann Afrika nicht alleine gelassen werden.
Die Migrationsflüsse über das Mittelmeer scheinen den Europäern, die weit entfernt wohnen, mehr Angst zu machen als den Italienern. Die Italiener sind letztlich ein solidarisches und wohltätiges Volk. Trotz einiger Propaganda der politischen Rechten – von der Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo – gab es keinen Volksaufstand gegen die Operation Mare Nostrum. Italien verlangt einfach eine bessere Aufteilung der Verantwortlichkeiten, das heisst bei der Rettung der Flüchtlinge und anschliessenden Verteilung der Migranten auf die EU-Länder. Zudem wird mehr präventive Arbeit gefordert, um dieser Art von Migrationsströmen zuvorzukommen.
GALERIE ADDIO MARE NORSTRUM!
swissinfo.ch: Italien wird zur Zeit von verschiedenen europäischen Ländern kritisiert, weil es sich nicht an die Vorgaben des Dublin-Abkommens hält. Die Schweizer Justiz- und Polizeiministerin Simonetta Sommaruga erklärte sich bereit, über den Verteilschlüsse für Flüchtlinge zu diskutieren, doch zuerst müsse sich Italien an die Abmachungen halten.
F.I.: Meiner Meinung nach gibt es illoyales Verhalten auf beiden Seiten. Die Verträge sehen eine Pflicht zur Registrierung von Flüchtlingen vor, aber auch eine Pflicht zur Solidarität mit anderen Ländern. Die gegenseitigen Vorwürfe haben eine negative Spirale in Gang gesetzt, ohne das eigentliche Problem anzupacken.
Italien ist sicherlich nicht ohne Schuld. Doch wer glaubt, man könne Personen, die gerade vor dem Ertrinken gerettet wurden, sofort die Fingerabdrücke abnehmen, hat keine Ahnung von der Wirklichkeit. Der Prozess einer Erfassung von Personen braucht Zeit und Ressourcen. Sicherlich ist es möglich, nicht nur Migranten, sondern auch Asylbewerbern Fingerabdrücke abzunehmen. Und es wird mittlerweile auch gemacht.
Aber ist es wirklich sinnvoll, Migranten und Flüchtlinge dazu zu zwingen, in einem bestimmten Teil von Europa zu verbleiben, in dem sie gar nicht bleiben wollen, an einem Ort, an dem sie keine Arbeitsmöglichkeiten und kein familiäres Netzwerk haben? Mit welchem Argument will man eine Familie aus Syrien kritisieren, die einen Bruder in Schweden oder in der Schweiz erreichen will, weil eine kleine Chance besteht, dassMehr
Wer rettet jetzt die Migranten aus dem Mittelmeer?
swissinfo.ch: Müsste also das Dublin-Abkommen revidiert werden?
F.I.: Ich bin dieser Auffassung. Das Dublin-System ist unausgewogen und ineffizient. Die Idee des Dublin-Abkommens hat funktioniert, als die EU-Südgrenze noch nicht so exponiert war wie heute. Es funktionierte, als auch die südeuropäischen Länder Wirtschaftswachstum aufwiesen und Hundertausende von Flüchtlingen in ihren nationalen Arbeitsmarkt integrieren konnten.
Leider sind diese strukturellen Voraussetzungen heute nicht mehr gegeben. Man kann eine Parallele zur Währungsunion und dem Stabilitätspakt ziehen, die beide bis zu einem bestimmten Punkt funktioniert haben. Inzwischen ist das Geschichte. Man muss jetzt den Mut haben, die Architektur dieses europäischen Gebäudes zu verändern. Andernfalls droht es zusammenzubrechen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch