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Das IKRK steckt in einer Finanzierungskrise – jetzt lanciert es einen Appell

Mirjana Spoljaric
Mirjana Spoljaric, die Präsidentin des IKRK, während einer Pressekonferenz in Genf. © Keystone / Salvatore Di Nolfi

Das IKRK ist in Gesprächen mit der Schweiz und anderen Geberländern, um die finanzielle Lücke zu schliessen.

«Ich rufe die Staaten und insbesondere die grossen Geberländer auf, uns zu unterstützen und die Lücke zu schliessen», sagte Mirjana Spoljaric, die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Anfang Juni an einer Pressekonferenz in Genf, auf der sie die desolate finanzielle Lage der Organisation ansprach.

Anfang des Jahres hatte das IKRK angekündigt, sein Budget von 2,84 auf 2,4 Milliarden Franken (2,64 Milliarden Dollar) zu kürzen und 1800 seiner 22700 Mitarbeitenden zu entlassen. Von den 350 Niederlassungen in aller Welt sollen 26 geschlossen und weitere verkleinert werden.

Das sind beispiellose Kürzungen für die 160 Jahre alte humanitäre Organisation mit Sitz in Genf. Trotz dieser Kürzungen sieht sich das IKRK aber immer noch mit einer Finanzierungslücke von 400 Millionen Franken konfrontiert.

Zu den wichtigsten Adressaten des Appels gehören die Vereinigten Staaten, Deutschland, die Schweiz, die Europäische Union und das Vereinigte Königreich.

«Natürlich ist die Schweiz wichtig. Ihre Unterstützung war in der Vergangenheit von entscheidender Bedeutung, und sie sendet ein Signal an andere Geber, ebenfalls zu handeln», sagt  Spoljaric. Für die Schweiz ist das IKRK ebenfalls ein wichtiger Partner, da rund ein Drittel ihres Budgets für humanitäre Hilfe an die Organisation geht.

Die «SonntagsZeitung» berichtete kürzlich, dass die Abschreibung eines Covid-Kredits der Schweiz über 200 Millionen Franken auf dem Tisch liege. 

Spoljaric sagte jedoch lediglich, dass die Organisation zusätzliche Mittel über den derzeitigen Beitrag des Landes in Höhe von 160 Millionen Franken hinaus benötige und die Gespräche mit der Schweizer Regierung noch nicht abgeschlossen seien.

Das IKRK müsse bis zum Ende des Jahres warten, um zu sehen, ob der Appell Wirkung zeigt. «Diese Dinge brauchen Zeit. Es gibt keine schnelle Lösung.»

Eine neue Strategie

Wie andere im humanitären Sektor leidet das IKRK unter höheren Kosten aufgrund der Inflation bei Nahrungsmitteln und Rohstoffen und sieht sich mit einer geringeren Unterstützung durch Geber konfrontiert, von denen die meisten ihre durch die Pandemie und den von Russland geführten Krieg in der Ukraine erschöpften Mittel kürzen mussten.

Der durch langwierige Konflikte – von Syrien über den Jemen bis nach Afghanistan – und den Klimawandel verursachte sprunghaft ansteigende Bedarf an humanitärer Hilfe bietet düstere Aussichten. Im Jahr 2013 waren weltweit rund 140 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen. Heute, zehn Jahre später, sind es bereits 340 Millionen. Gleichzeitig hat sich das Budget des IKRK mehr als verdoppelt.

Doch einige Mitarbeitende sind frustriert über die Richtung, die die Organisation in den letzten zehn Jahren eingeschlagen hat. Letzte Woche berichtete das Schweizer Radio RTS, dass 2500 IKRK-Mitarbeiter einen offenen Brief an die Leitung der Organisation unterzeichnet haben, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen.

Sie geben der früheren Leitung der Organisation die Schuld an der Entwicklung. Sie argumentieren, das IKRK sei zu gross und habe seine Kernaufgabe aus den Augen verloren: den Schutz von Zivilpersonen in Konflikten, den Besuch von Gefangenen und die Wiedervereinigung von verlorenen Angehörigen. 

«Wir müssen Programme schliessen und eine beträchtliche Anzahl von Mitarbeitenden entlassen, und das ist für sie äusserst schwierig. Ich verstehe ihre Frustration und ihren Ärger, aber unser Ziel – und unsere Pflicht – ist es, unsere finanzielle Stabilität und operative Kontinuität sicherzustellen», sagte Spoljaric, die im Oktober 2022 zum IKRK gestossen ist.

Spoljaric nutzte die Pressekonferenz, um einen Ausblick auf die Vierjahresstrategie zu geben, die voraussichtlich im November verabschiedet wird.

«Wir werden uns verstärkt auf unsere Kernaktivitäten konzentrieren, bei denen das IKRK die grösste Wirkung erzielen und den Menschen am meisten helfen kann.» Diese Arbeit findet in bewaffneten Konflikten und an den Frontlinien statt, also an Orten, zu denen andere humanitäre Organisationen oft keinen Zugang haben.

Krieg in der Ukraine

Der Krieg in der Ukraine sei «die grösste Operation in der Geschichte des IKRK», sagte Spoljaric. Die Organisation hat rund 800 Mitarbeitende vor Ort.

Ein wichtiger Teil der Arbeit des IKRK in der Ukraine ist der Besuch von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten. Im vergangenen Jahr hatte das IKRK mehrfach beklagt, dass Kiew und Moskau keinen Zugang zu den Gefangenen gewähren.

Auf die heutige Situation angesprochen, sagte Spoljaric: «Wir machen Fortschritte.» Zahlen nannte sie jedoch nicht. Durch die Arbeit des Zentralen Suchdienstes in Genf habe das IKRK in 5500 Fällen die Verbindung zwischen Familien und ihren vermissten Angehörigen wiederherstellen können.

Der Zusammenbruch des Nowa-Kachowka-Damms in dem von Russland kontrollierten Gebiet in der Südukraine, der eine gewaltige Überschwemmung auslöste, erinnere die kriegführenden Länder eindringlich daran, dass sie das humanitäre Völkerrecht einhalten müssten, so Spoljaric. 

Der Angriff auf zivile Infrastrukturen ist nach den Genfer Konventionen, die alle Staaten ratifiziert haben, verboten. Kiew und Moskau geben sich gegenseitig die Schuld an der Zerstörung der Infrastruktur.

«Was uns in solchen Situationen immer Sorgen bereitet, ist der überwältigende humanitäre Druck, der dadurch entsteht. Denn sie führen zu humanitären Folgen, die nicht bewältigt werden können. Je mehr derartige Vorfälle es gibt, desto weniger werden wir in der Lage sein, die Menschen in angemessener Weise zu erreichen und massives Leid zu verhindern», sagte die IKRK-Präsidentin.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Marc Leutenegger

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