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«Das ist eine Niederlage für die Aborigines, aber auch für die Demokratie»

Eine Wählerin wirft ihren Stimmzettel in die Urne.
Wähler:innen am 14. Oktober bei der Stimmabgabe in der Bellevue Hall, in Midland, Perth. Richard Wainwright/EPA/Keystone

Die Australier:innen haben eine Verfassungsänderung, die den Aborigines mehr Mitsprache gebracht hätte, in einer Abstimmung abgelehnt. Der in Canberra tätige Schweizer Politikwissenschafter Francesco Veri sieht die Gründe dafür auch in Defiziten der direkten Demokratie in Australien.

Für den Schweizer Demokratie- und Australienexperten Francesco Veri kommt das Abstimmungsresultat vom Wochenende «alles andere als überraschend», wie er im Gespräch mit SWI swissinfo.ch sagt. «Überrascht bin ich eher vom Vorgehen des amtierenden Ministerpräsidenten Anthony Albanese, der doch wissen musste, wie schwierig es solche Abstimmungsvorlagen in Australien haben.»

Knapp 18 Millionen Australier:innen haben am 14. Oktober 2023 in einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung abgestimmt, welche die Einrichtung eines beratendes Gremiums der indigenen Bevölkerung zum australischen Parlament vorgesehen hätte. Die Vorlage wurde mit 60% Nein-Stimmen deutlich bachab geschickt, in sämtlichen sechs Bundesstaaten resultierte ein Nein.

Am Anfang des Ansinnens stand die sogenannte Uluru-Erklärung, eine Petition indigener Gruppen, mit der diese 2017 mehr Einfluss gefordert hatten. Die liberal-konservative Regierung lehnte dies damals als zu radikal ab, nach einem Regierungswechsel setzte Labor-Ministerpräsident Antony Albanese das Vorhaben aber auf die Agenda.

Ein belastetes Thema

Die politische Einbindung der Indigenen, die den fünften Kontinent seit über 60’000 Jahren bewohnen, ist historisch vorbelastet. Im Unterschied etwa zum Nachbarland Neuseeland hat Australien bei der Gründung des modernen Bundesstaates keinen Vertrag mit den Aborigines abgeschlossen. Sie blieben nach Ankunft der ersten weissen Siedler im Jahre 1788 lange ohne jegliche Rechte, wurden erst 1967 als Bürger:innen anerkannt.

Veri, der für das Aarauer Zentrum für Demokratie (ZDA) sowie für das «Zentrum für Deliberative Demokratie und Globale Gouvernanz» (Centre for Deliberative Democracy and Global Governance) an der Universität der australischen Hauptstadt Canberra tätig ist, sieht für die Niederlage an der Urne auch Gründe im demokratischen System.

Es ist ein System, bei dessen Entwurf sich die Verfassungsväter Ende des 19. Jahrhunderts von der Schweiz inspirieren liessen. So setzt eine Verfassungsänderung hier wie dort eine Mehrheit von Volk und Ständen (in Australien ‘Staaten‘) voraus.

Francesco Veri blickt in die Kamera.
Der Tessiner Politikwissenschafter Francesco Veri lehrt und forscht am Zentrum für Demokratie in Aarau und der Universität Canberra. zVg

Es gibt aber auch erhebliche Unterschiede – mit dem Resultat, dass die Erfolgsquote von Regierungsvorlagen in australischen Volksabstimmungen markant von jener im direktdemokratischen Vorbildstaats Schweiz abweicht: Während in «Down Under» eine von fünf Vorlagen angenommen wird, schaffen in der Schweiz fast drei Viertel diese Hürde.

Defizite der australischen Demokratie

«Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es in Australien in über 30 Abstimmungen keiner Regierung gelungen, eine Verfassungsänderung gegen den Willen der Opposition durchzubringen», sagt Veri. Die aktuelle Volksabstimmung bestätige drei grundsätzliche Defizite der australischen Demokratie, wie sie bereits beim gescheiterten Referendum über die Einführung der Republik 1999 deutlich wurden: Sie betreffen das Wahlsystem, den Förderalismus und die Stimmpflicht.

«Im australischen Parlament, das im Mehrheitswahlrecht gewählt wird, ist es fast unmöglich, tragfähige Lösungen zu finden, die in einer Volksabstimmung bestehen können», betont Veri. Im Unterschied dazu sind in der Schweiz die vier grössten Parteien im Parlament (mit gegen 80% der Abgeordnetensitze) auch in der Regierung vertreten, sodass die Bundesverfassung mit der Zeit gehen kann: So haben sich in den letzten 175 Jahren Volk und Stände in der Schweiz in 173 Fällen für Anpassungen und bei zwei Gelegenheiten 1874 und 1999 für eine Totalrevision gewinnen lassen.

Eine zweite Hürde für erfolgreiche Verfassungsprojekte macht Veri beim australischen Förderalismus aus, «der postkoloniale Züge» trägt. Nur sechs Territorien sind als vollwertige Bundesstaaten anerkannt. Der Landesteil mit dem grössten Anteil indigener Menschen – die Northern Territories – wird in einer Volksabstimmung nicht als Staat mitgerechnet». Ebenso wenig wie das ´Australia Capital Territory´ mit der Hauptstadt Canberra, wo am 14. Oktober über 60% für das Indigenen-Mitspracherecht votierten.

Als dritte grosse Herausforderung bezeichnet Veri die in Australien geltende Stimmpflicht: «Eine Volksabstimmung wird von vielen Australier:innen eher als unnötige Bürde, denn als Chance auf Mitbestimmung betrachtet. Dazu trägt die Stimmpflicht nicht zu besser informierten Bürger:innen bei, sondern zu einem Vorteil für den Status Quo, da schlecht informierte Stimmende mitentscheiden müssen».

Im Vorfeld der aktuellen Abstimmung äusserte sich dies in einer Kampagne der Mitsprachegegner:innen unter dem Motto «If you don’t know, vote no» («wenn Du nicht weisst, wie stimmen, dann stimme nein») Dazu kursierten viele Falschinformationen über eine mögliche künftige Vetorolle der Indigenen in der australischen Politik im Falle eines ‘Ja’.   

Laut Francesco Veri bildet die gescheiterte Abstimmung vom 14. Oktober «nicht nur eine Niederlage für die Aborigines in Australien, sondern auch eine Niederlage für die Demokratie im Land».

Eine Neuauflage könne in der Zukunft nur dann Aussichten auf Erfolg haben, wenn sie von einer konservativen Regierung ausgehe. Dazu empfiehlt Veri Reformen des Förderalismus und des Stimmrechtes – wiederum nach Vorbild der Schweiz.

Editiert von Marc Leutenegger.

Zur Transparenz: Der Autor dieses Artikels ist zusammen mit Francesco Veri im «International Advisory Panel on Referendums» der Australian National University.

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