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«Das Leiden der Palästinenser heisst Besetzung»

"Jede Minute und tagelang hören wir Bombenexplosionen und Artilleriegeschosse... es ist die Hölle". Abu Akram, Leiter der Palestinien Medical Society afp

Der Wiederaufbau Gazas und die Hilfe an seine Bevölkerung, an dem sich die Schweiz beteiligt, gleicht einer Sisyphusarbeit, auch wenn zur Zeit zwischen Israel und der Hamas eine Feuerpause herrscht. Doch mit jedem neuen Angriff Israels in den letzten Wochen wurden die Fortschritte unter Trümmern und zwischen Toten begraben. swissinfo.ch hat  Augenzeugenberichte zusammengestellt.


Gaza-Konflikt

Zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas ist am Dienstagmorgen eine für drei Tage vereinbarte Feuerpause in Kraft getreten. Die Vereinbarung war unter Vermittlung Ägyptens zustande gekommen. Zugleich sollen in Kairo Verhandlungen über einen dauerhaften Waffenstillstand beginnen.

Vier Wochen nach Beginn seines Militäreinsatzes zog Israel nach den Worten eines Armeesprechers auch alle Bodentruppen aus dem Palästinensergebiet ab.

Israel hatte am 8. Juli einen Militäreinsatz gegen die radikalislamische Hamas im Gazastreifen gestartet, um den Raketenbeschuss aus dem Palästinensergebiet zu stoppen und Tunnel der Hamas zu zerstören.

Nach palästinensischen Angaben wurden seitdem mehr als 1850 Palästinenser getötet. Auf israelischer Seite wurden in dem Konflikt 64 Soldaten und drei Zivilisten getötet.

(Quelle: SDA)

«In den vergangenen sechs Jahren habe ich verschiedene Angriffe erlebt, doch dieser ist der allerschlimmste: massiv, langdauernd und niederträchtig mit Frauen und Kindern als Zielscheibe», beklagt sich die in Gaza lebende Journalistin Maha Banna. Zusätzlich zu Stromausfällen, Wassermangel und der Verknappung von Lebensmitteln und Medikamenten leben die Palästinenser in ständiger Panik, von Artillerie- oder Luftangriffen getroffen zu werden. Diese haben ganze Quartiere zerstört und bereits mehr als 1000 Tote, mehrheitlich Zivilisten, gefordert.

Israel wirft der Hamas vor, die Zivilbevölkerung als Schutzschild zu benützen, da sie die Raketenabschussrampen inmitten von Wohnvierteln aufstelle. In einem Interview mit der BBC erklärte der politische Berater von Amnesty International in London Abner Gidron, es gäbe dafür nicht genügend Beweise, meinte aber, dass es seines Erachtens genügend Informationen gebe, um sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Gidron betonte jedoch, dass Israel nicht übersehen könne, dass in den bombardierten Gebieten Zivilbevölkerung lebe: «Eine schwerwiegende Verletzung des humanitären Völkerrechts berechtigt die Gegenseite nicht dazu, dasselbe zu tun.»

«Überrascht, am Leben zu sein»

«Viele kommen im Schockzustand im Spital an und können kaum glauben, dass sie noch am Leben sind», erklärt der Arzt Yasser Abu Jamei. Er ist der Leiter des  Gaza Community Health Programme (GCMHP)Externer Link, das von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) Externer Linkunterstützt wird.

Am 21. Juli verlor er 28 Familienangehörige, als eine Granate im Haus einschlug, wo sie sich nach dem Fasten des Ramadan zum Abendessen getroffen hatten.

Wie kann man anderen helfen, wenn man selbst so viel Leid erlebt? «Es ist nicht leicht. Es trifft alle und wir haben keine Wahl. Aus Gründen der psychischen Gesundheit müssen wir es überwinden, denn es ist in diesen Augenblicken äusserst wichtig, Hilfe zu leisten.»

Rund 240’000 Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und befinden sich in Flüchtlingszentren der UNO, anderen Aufnahmezentren oder bei Familienangehörigen. UNWRA Reuters

Verirrte Geschosse?

«Ich habe schreckliche Dinge gesehen. Ich kenne viele Fälle von Menschen, die in ihren Häusern umgekommen sind, wie jene schwangere Frau, die zusammen mit ihrer Schwiegermutter und ihren Kindern in ihrer Wohnung war. Sie haben nichts Schlechtes getan. Sie waren nicht auf der Strasse und haben sich nicht am Widerstand beteiligt. Es waren Zivilpersonen, die zu Hause waren», erzählt Maha.

Die Journalistin wohnt zusammen mit ihren beiden kleinen Töchtern, ihrem Vater, ihrer Schwester und ihrem Bruder mit Familie in Gaza. «Das ist der Fall von vielen. Jede Familie wohnt mit zwei oder drei anderen evakuierten Familien zusammen».

Sie beschreibt den ständigen Schrecken der Kinder und ihren eigenen; den Überdruss aller, zu Hause eingesperrt zu sein: «Die Kinder langweilen und ängstigen sich. Sie haben Ferien und möchten ans Meer.»

Doch da erinnert sich Maha an die vier Jugendlichen, die von Kugeln getroffen wurden, als sie am Strand spielten. Laut der Journalistin stimmt es nicht, dass Geschosse «aus Versehen» die Zivilbevölkerung treffen.

Jaber Wishah, Leiter des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte (PCHR) stimmt ihr zu: «Israel verfügt über Technologie, die ihre Ziele nicht verfehlt.» 

«…Die Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht und je weiter wir vorankamen, desto stärker wurde der Todesgeruch». Dr. Aed Yaghi, Leiter der Palestinien Medical Society in Gaza Reuters

Humanitäre Herausforderung, Hilflosigkeit und Unsicherheit

Die Wunden der Opfer belegen die Benützung neuer Waffen, welche die inneren Gewebe vollkommen zerstören. Für die lokalen Ärzte ist es äusserst schwierig, solche Verletzungen zu behandeln», betonen der Soziologe Abu Akram und der Arzt Aed Yaghi, welche die von Medicus Mundi Schweiz unterstützte Palestinian Medical Relief Society leiten.

Schweizer Appell

Die Schweiz hat wiederholt «sämtliche Verletzungen des Völkerrechts, wer auch immer der Urheber ist», verurteilt.

In einer MedienmitteilungExterner Link vom 30. Juli bestätigte der Bundesrat seinen Aufruf und die Bereitschaft zur Linderung der Lage der Zivilbevölkerung sowie die Unterstützung internationaler Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts.

Aufgrund eines offiziellen Gesuchs der palästinensischen Behörden hat die Schweiz als Depositärstaat mit den Unterzeichnerstaaten der Genfer-Konventionen Beratungen aufgenommen, um bis Jahresende eine Konferenz einzuberufen.

Die Schweiz unterstützt seit 1950 die Hilfsprogramme der UNWRA für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten.

Seit 1994 unterhält die DEZA in Gaza und Cisjordanien Büros und unterstützt in Zusammenarbeit mit Regierungsinstanzen und ONG Projekte Externer Linkfür physische und psychische Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung und Demokratie.

Unsere Gesprächspartner erzählen auch von der Angst der Familien, wenn Israel mit Flugblättern und sogar per E-mail und Telefon vor neuen Angriffen warnt: «Die Verwirrung ist vollkommen. Die Leute rennen orientierungslos herum. Viele flüchten. Andere finden in Häusern oder Schulen Zuflucht, die von der UNWRA als Schutzräume eingerichtet wurden», berichtet Jaber Wishah.

«Eine Frau gebar ihr Kind in einem Schutzraum inmitten von rund 50 Vertriebenen. Es gibt keine andere Wahl. Die Menschen können nirgendwohin gehen und landen in den Schulen. Dort gibt es kein Privatleben und die sanitären Einrichtungen sind ungenügend».

Ein riesiger Skandal

«Es ist die Hölle», fasst Abu Akram zusammen: «Es fehlen Medikamente und medizinische Geräte. Es mangelt an allem, doch zuallererst brauchen wir internationalen Schutz gegen die andauernden Angriffe Israels auf unschuldige Menschen».

Die wenigen Augenblicke der Waffenruhe ermöglichen, die Schäden zu sehen. «Der Waffenstillstand vom 26. Juli zeigte das Ausmass der Zerstörung von Shijaeya, einem Aussenviertel Gazas. Die Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht und je weiter wir vordrangen, desto stärker wurde der Leichengeruch. Unter den Trümmern waren noch Tote», erzählt der Arzt Aed Yaghi.

«Es ist ein riesiger Skandal, dass die Welt zuschaut, ohne etwas zu unternehmen», sagt Abu Akram entrüstet. Jaber Wisha doppelt nach: «Es ist Zeit, dass die internationale Gemeinschaft handelt und die Schweiz als Depositär-Staat der UNO-Konventionen eine Konferenz über humanitäres Völkerrecht einberuft.»

Für ihn begann der Konflikt mit Israel nicht am vergangenen 8. Juli, sondern 1948. «Das Schlüsselwort für das Leiden der Palästinenser heisst Besetzung: «Die internationale Gemeinschaft muss auf Israel Druck ausüben, um dieser Besetzung, der längsten der Geschichte und hoffentlich der letzten, ein Ende zu setzen…»

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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