«Der Tote öffnet den Lebenden die Augen»
Geheim gehaltene Massengräber in Mexiko, 30'000 Verschollene in Argentinien, Frankismus und Schweigepakt, Friedensprozess in Kolumbien, regelmässig Tote in Syrien... dies sind Menschenrechtsthemen, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit schreien. Doch was tun, wenn diese an der andauernden Straflosigkeit abprallen? Ein Schweizer Projekt sucht Antworten.
«‹Right to Truth, Truth(s) through Rights: Mass Crimes Impunity and Transitional Justice› (Recht auf Wahrheit, Wahrheit(en) durch Rechte: Straflosigkeit von Massenverbrechen und kollektive Vergangenheitsbewältigung) stellt die Frage, wie das Recht auf Wahrheit geltend gemacht werden kann, wenn Strafjustiz nicht zugänglich ist», fasst die Leiterin und Professorin an den Universitäten Genf und Neuenburg das Projekt zusammen.
Anders gesagt: «Was bedeutet das Recht auf Wahrheit, wenn es wegen Amnestiegesetzen, der staatlichen Verleugnung der Verbrechen, einer systematischen Politik des Verschwindenlassens der Ermordeten und sogar des Tods der Verantwortlichen zu keinen Strafprozesse kommt? Wie die Spuren und Hinweise auf extreme Gewalt ausserhalb des Strafrechts sichern – ‹zum Sprechen bringen› – und mit ihnen umgehen»?
‹Right to Truth, Truth(s) through Rights: Mass Crimes Impunity and Transitional Justice› geht von der Hypothese aus, dass das Recht in einem (post)transitionalen Kontext zusätzlich zu seiner regulatorischen auch eine ‹kognitive› Funktion hat und stützt sich auf drei verschiedene Beweismittel: Zeugenaussagen, Archive und menschliche Überreste.
Sévane Garibian schloss für ihr Projekt Partnerschaften mit verschiedenen Schweizer Organisationen, inbegriffen des Schweizerischen Aussenministeriums (EDA) und Swisspeace, internationalen Institutionen, wie den Programmen der Oxford und Columbia University sowie dem International Centre for Transitional Justice (ICTJ) in New York. Zudem geniesst das Projekt die Unterstützung internationaler Experten, wie Adama Dieng, Louis Joinet und Juan Ernesto Méndez.
Die Lage in der Schweiz
Mit einem neuen, interdisziplinären und internationalen Ansatz versucht das Projekt, die Verzögerung in der Schweiz nachzuholen: «Die Schweiz ist sehr stark in allem, was Völkerrecht, Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht, Vermittlung und Vergangenheitsarbeit (‹Dealing with the past›) anbelangt». Laut Sévane Garibian «fehlt jedoch noch die Entwicklung des Fachunterrichts und der wissenschaftlichen Erforschung der transitionalen Gerechtigkeit an Schweizer Hochschulen».
In der Tat war dies einer der Gründe, weshalb der Schweizerische Nationalfond (SNF) der Juristin für ihr Projekt an der Universität Genf eine Subvention zusprach.
In einem Interview mit swissinfo.ch erklärt die Forscherin, dass die Idee des Projekts v.a. dank ihrer Arbeiten in Argentinien und Spanien einen starken Impuls erhielt.
Argentinien – ein «aussergewöhnliches Labor» für (post)transitionale Gerechtigkeit
Nach den Massenverbrechen der Militärdiktatur (30’000 Verschollene) erprobte das südamerikanische Land in den vergangenen dreissig Jahren sämtliche zur Verfügung stehenden Rechtsmittel: Untersuchungskommission, Strafprozess, Amnestiegesetz, Begnadigung und Vergebung, Wiedergutmachung und schliesslich Ausserkraftsetzung der Amnestie und Wiedereröffnung der Strafprozessen.
Die 1990er-Jahre waren eine entscheidende Zeit, da Menschenrechtsorganisationen unter dem Slogan ‹¡ni olvido, ni perdón! (Weder vergessen noch vergeben!) sich mit Hartnäckigkeit für Gerechtigkeit einsetzten: «Sie konnten nicht tolerieren, dass mit Amnestiegesetzen und der Begnadigungspolitik Präsident Menems weiterhin Straffreiheit herrschte», unterstreicht Garbibian.
Der Fall Argentinien zeigt, was erreicht werden kann, wenn die Strafverfolgung der Täter verhindert wird: die Schaffung neuer Rechtsmittel: «Das Recht auf Wahrheit entstand wirklich in diesem Moment und ermöglichte den Beginn einer anderen Art von Prozessen. Es waren zwar keine Strafprozesse, doch sie bewirkten, dass die Tatsachen ans Licht kamen».
Die 1990er-Jahre: ein Meilenstein
Das Recht auf Wahrheit, betont die Expertin, setzt die Verpflichtung des Staates voraus, Untersuchungen anzustrengen, Archive zugänglich zu machen, Gedenkfeiern zu organisieren, an den Orten der Unterdrückung Denkmäler zu errichten und gegen die Verleugnung der Verbrechen zu kämpfen. Zudem soll er sich an der Suche nach den Verschollenen beteiligen und diese mitfinanzieren, Exhumierungen durchführen und DNA-Tests finanzieren.
Genau in den 1990er-Jahren und zusammen mit der Entwicklung des internationalen Strafrechts kam der Boom der DNA-Tests. Dies gab den Menschenrechtsorganisationen und in erster Linie der Organisation der «Mütter und Grossmütter der Plaza de Mayo» einen neuen Antrieb bei der Suche nach den Opfern der Diktatur. Zur beginnenden Praxis der Exhumierungen kam die Möglichkeit, menschliche Überreste zu identifizieren.
«All dies kann man erreichen, sogar wenn das Strafrecht im eigentlichen Sinn nicht zu verwirklichen ist. Es sind Dinge, die man im Namen des Rechts auf Wahrheit tun kann und worauf die Opfer oder deren Angehörige angesichts der Straffreiheit beharrten. Man tut dies parallel zur Wiedereröffnung von Strafprozessen.»
Spanien – das genaue Gegenteil
Im Zusammenhang mit ihren vergleichenden Forschungen beschäftigte sich Professorin Sévane Garibian auch mit Spanien, wo sie genau das Gegenteil antraf: «In Spanien wurde der Schweigepakt nicht gebrochen», meint sie kategorisch.
Die Familien, die gegen die Verleugnung der während des Frankismus begangenen Verbrechen (130’000 Verschollene) kämpfen, greifen auf die menschlichen Überreste zurück. Auf eigene Faust und ohne Unterstützung des Staates führen sie fast heimlich Exhumierungen durch.
«Der Staat gewährt keine finanzielle Unterstützung mehr, was verschiedene Herausforderungen mit sich bringt. Ideal wäre, alle Informationen zu digitalisieren und Archive zu erstellen, doch das ist sehr schwierig, wenn die Regierung nicht hilft und es dafür auch keinen staatlichen Fond gibt».
Das Recht der Ermordeten
Das Thema der menschlichen Überreste ist jedoch wesentlich und geht Länder auf allen Kontinenten an, sei es wegen Bürgerkriegen oder extremer Gewalt. In der Vergangenheit betraf es Armenien, Ruanda und Guatemala und in der Gegenwart müssen sich Kolumbien, Mexiko oder Syrien damit auseinandersetzen. Auch nicht zu vergessen sind die Tausenden von Flüchtlingen, die im Mittelmeer den Tod fanden.
«Man befasst sich viel mit den Rechten der Lebenden, der Überlebenden und den Familien der Opfer, was sicher grundsätzlich ist. Doch man muss sich auch um die Verschollenen kümmern, um diejenigen, die nicht mehr hier sind», betont Garibian.
«Wenn man sich mit den Rechten der Toten befasst, beschäftigt man sich mit den Rechten der Lebenden. Doch auch die Toten haben Ehre und Würde, die geschützt werden müssen.» Dies ist gerade einer der Aspekte, welche ‹Right to Truth, Truth(s) trough Rigths: Mass Crime Impunity and Transitional Justice› in Betracht zieht.
Die Leiterin des Projekts erinnert sich an das Sprichwort ‹der Tote öffnet dem Lebenden die Augen› und meint zum Schluss: «Sich mit diesen Themen beschäftigen, bedeutet nicht nur, mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart und der Zukunft umzugehen.»
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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