«Daten ermächtigen die Bevölkerung»
Am UNO Weltdatenforum in Bern diskutierten Teilnehmende aus der ganzen Welt, wie Daten dabei helfen können, die von den UNO-Mitgliedern vereinbarten Nachhaltigkeitsziele einzuhalten. Der Schweizer Botschafter Thomas Gass erklärt im Interview, weshalb Daten auch in der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit essentiell sind.
Seit dem Ausbruch der Pandemie sind öffentliche Daten nachgefragt wie nie: Personen, die Statistiken sonst lieber aus dem Weg gingen, beschäftigen sich plötzlich mit Dingen wie dem R-Wert, der Impfquote oder der Übersterblichkeit.
Aufgrund dieser Daten ergreifen Regierungen Massnahmen – oder werden kritisiert, weil die sie die Faktenlage nicht berücksichtigen. Daran wird ersichtlich, wie wichtig öffentlich verfügbare Daten sind: «Nur wenn etwas messbar ist, kann man jemanden auch verantwortlich machen» sagte Georges-Simon Ulrich, Direktor des Bundesamts für Statistik kürzlich an der Medienkonferenz des UNO Weltdatenforums in Bern.
Fortschritte messen und Ziele überprüfen zu können – das durch ein möglichst gutes Datenökoystem in möglichst vielen Ländern zu erreichen, ist denn auch das Ziel, das die 700 Teilnehmenden des Forums aus 110 Ländern anstreben. Zu überprüfen sind die 17 globalen UNO-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030Externer Link.
Während die Schweiz selbst darum bemüht ist, die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, setzt sie sich auch im Ausland dafür ein. SWI swissinfo.ch traf Thomas Gass, Vizedirektor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), um darüber zu sprechen, wie Daten und die Agenda 2030 die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz verändern.
SWI swissinfo.ch: Was bedeutet die Agenda 2030 für die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz?
Thomas Gass: Mit den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 hat man realisiert, dass Entwicklung nicht etwas ist, das man jemandem gibt. Entwicklung ist etwas, an dem die Bevölkerung selbst teilhaben muss.
Ich erkenne drei Paradigmenwechsel, die von der Agenda 2030 eingeläutet wurden. Erstens werden Themen nicht mehr isoliert betrachtet, sondern verknüpft. Man kann etwa keine Wirtschaftsförderung machen ohne Gleichstellung der Frauen.
Auch kann man nicht die Bildung fördern, ohne über Sicherheit nachzudenken. Denn in unsicheren Ländern gehen Kinder auch weniger in die Schule. Viele Dinge sind verbunden, das müssen wir in der Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen.
Zweitens verstand man Entwicklung lange so: Wer bekommt, ist dem, der gibt, Rechenschaft schuldig. Die Agenda 2030 kehrt das um. Die Staaten sind den Bevölkerungen gegenüber rechenschaftspflichtig. Das ist revolutionär in der Entwicklungszusammenarbeit.
Der dritte Punkt ist das Versprechen, niemanden zurück zu lassen, «leave no one behind». Früher ging es vor allem um Effizienz: Wie setzte ich das Entwicklungsbudget ein, damit ich am meisten für mein Geld bekomme?
Wenn man das macht, bleibt immer die gleiche Gruppe Menschen auf der Strecke. Die Agenda 2030 beruht auf den universellen Menschenrechten und besagt: Wenn eine signifikante wirtschaftliche oder soziale Gruppe vergessen geht, dann ist die gemeinsame Entwicklung nicht nachhaltig.
Wenn Sie auf das UNO Weltdatenforum zurückblicken, was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis?
Dass die Rechenschaftspflicht gegenüber der Bevölkerung im Mittelpunkt stand. Es ist wichtig, dass man die Bevölkerung durch Daten ermächtigt. In der Schweiz sind wir verwöhnt: Wenn vor unserem Haus etwas gebaut wird, wissen wir sofort, wo wir hingehen müssen, um zu erfahren, wer sich für das Bauvorhaben beworben hat, wer sich durchsetzte und was die Pläne sind. Doch das ist nicht auf der ganzen Welt so.
Daten zu haben, ermächtigt die Bevölkerung. Sie ermächtigen nicht nur dazu, die Regierung oder die lokalen Behörden in die Pflicht zu nehmen. Daten ermächtigen die Bevölkerung auch dazu, teilzunehmen, selber etwas zu machen. Das ist die Essenz der Entwicklungszusammenarbeit.
In der Entwicklungszusammenarbeit muss man immer die Dienstleistenden stärken und die, die auf die Dienstleistung Anspruch haben. Man kann nie nur eine Seite stärken. Unterstützt man nur die Dienstleistenden, hat die Bevölkerung nichts davon. Stärkt man nur die Bevölkerung, gibt es Frustration und Beschwerden aber nicht unbedingt eine bessere Dienstleistung. Der Schlüssel für ein ausgeglichenes Verhältnis sind Daten und Transparenz.
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Sie sagen, Daten wirken demokratisierend.
Genau! Für mich war das das wichtigste Thema dieser Konferenz. Doch es ist nicht so simpel: Daten sind Macht. Sie können auch benutzt werden, um zu manipulieren. Es ist nicht selbstverständlich, dass Daten genutzt werden, um das Verhältnis zwischen Dienstleistenden und Bevölkerung zu stärken.
Man muss Daten verständlich aufbereiten, man muss sie erklären und an die richtigen Personen bringen. Die Bevölkerung braucht Datenkompetenz. Daten brauchen zudem eine gute Qualität und dürfen die Privatsphäre nicht verletzen. Das ist besonders komplex etwa bei Flüchtlingen.
Unter dem Thema «doppelt unsichtbar» ging es am UNO Weltdatenforum an einem Panel um die Kinder von intern Vertriebenen. Intern Vertriebene sind sowieso schon nicht sichtbar, man beschäftigt sich erst mit ihnen, wenn sie über die Grenze gehen. Über deren Kindern weiss man erst recht nichts. Man hat also keine Ahnung, wie viele Kinder davon betroffen sind. Wie soll man da für sie Schulen errichten können, wenn man nicht weiss, dass es diese Kinder gibt?
Gerade in der Corona-Krise haben wir ja gesehen, dass jeder Monat, jedes Jahr, das man verliert, ohne in die Schule zu gehen, das Entwicklungspotential eines Kindes schmälert. Deshalb ist dieses Credo so wichtig: «Leave no one behind.»
Als Entwicklungszusammenarbeits-Organisation müssen wir uns fragen: Wissen wir überhaupt, wer die verletzlichsten Personen sind in einer Bevölkerung? Wissen wir, weshalb sie verletzlich sind. Was sind die sozialen, ökonomischen und politischen Risiken, die diese Personen meistern müssen?
In der Pandemie hatten wir in der Schweiz plötzlich riesige Schlangen vor den Lebensmittelausgaben. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass es das in der Schweiz gibt. «Leave no one behind» wird nur eine Wirklichkeit, wenn man Daten hat, um diese Gruppen sichtbar zu machen.
Wie geht man bei der DEZA damit um, dass viele weniger privilegierte Länder nur lücken- oder mangelhafte Daten erheben können?
Das ist ein grosses Problem. Wir sind auf halbem Weg zum zeitlichen Horizont von 2030. In vielen Ländern fehlen Daten zu den Unterzielen und den Indikatoren der Nachhaltigkeitsziele.
Es gibt sehr viele Datenlücken. Diese kann man teilweise mit Annäherungen ersetzen, mit Hilfe der Zivilgesellschaft oder mit Geodaten wie Satellitenbildern, wenn es etwa um die Dimensionen der Waldrodung geht. Doch im Grossen und Ganzen müssen wir dringend bessere Daten aufbauen, damit wir wissen, ob wir mit der Agenda 2030 vorwärts kommen.
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