Debatte um Meinungsfreiheit neu angefacht
"Freiheit vor Korrektheit" oder "Urteil ist schwer verständlich". Die Schweizer Presse ist sich nicht einig in der Beurteilung des Richterspruchs aus Strassburg. Der Menschenrechts-Gerichtshof rügte die Schweiz, den türkischen Nationalisten und Völkermord-Leugner Dogu Perincek zu Unrecht wegen Rassendiskriminierung verurteilt zu haben.
«Es entbehrt nicht der Ironie», kommentiert die Neue Zürcher Zeitung: «Da wollte sich die Schweiz als vorbildliche und unerbittliche Kämpferin gegen Rassendiskriminierung profilieren – und muss sich nun vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorhalten lassen, zu weit gegangen zu sein.»
Die Kommentatorin zeigt Verständnis für das Urteil: «Es weist darauf hin, dass man die Freiheit des Einzelnen, seine Meinung kundzutun, grundsätzlich hochhalten muss.»
Trotzdem bedeute der Richterspruch aus Strassburg nicht, dass die Schweiz nun ihre Strafnorm gegen Rassendiskriminierung revidieren müsse. «Er sollte von der Justiz aber als ein weiterer Grund angesehen werden, die Gesetzesbestimmung, die bei der Anwendung im Einzelfall immer wieder für Probleme und Abgrenzungsschwierigkeiten sorgt, zurückhaltend auszulegen.»
«Öffentlicher Frieden nicht gefährdet»
Es gehöre in einer offenen und demokratischen Gesellschaft wie der Schweiz dazu, «Einzelmeinungen zuzulassen und Abweichler nicht mit dem Strafrecht mundtot zu machen – auch wenn sie Irrlehren verbreiten oder ihre Äusserungen dumm, unanständig, provozierend oder gar schockierend sind», so die NZZ.
Dies stelle keine Gefährdung des öffentlichen Friedens dar, denn die Bevölkerung sei durchaus fähig, «gewisse Spannungen auszuhalten und mit unliebsamen Provokationen umzugehen. Nicht jedes verpönte Verhalten verlangt nach dem Strafrichter».
«Schwer verständlich»
Ganz anderer Meinung ist der Kommentator der beiden Tageszeitungen Der Bund und Tages-Anzeiger. Perincek, Präsident der türkischen Arbeiterpartei, «wollte diffamieren, beleidigen und hetzen. Um solche Fälle zu ahnden, hat das Volk 1994 die Anti-Rassismus-Strafnorm angenommen».
«Umso schwerer verständlich ist das Strassburger Verdikt. Wer wie Perincek historische Fakten zu Propagandazwecken leugnet, verabschiedet sich aus dem öffentlichen Wettstreit der Meinungen. Hier genügt ignorieren nicht, solche Extremisten sind ein Fall fürs Strafrecht.» Wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit verharmlose und damit Grundwerte der Zivilgesellschaft infrage stelle, «muss eine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit hinnehmen».
Der Kommentator empfiehlt der Schweiz nun, das Urteil weiterzuziehen, denn es berge die Gefahr, «dass eine bisher stringente Gerichtspraxis über den Haufen geworfen wird. Bereits reiben sich die Gegner der Strafnorm die Hände». Die Schweiz hat drei Monate Zeit, Rekurs einzulegen.
Gesetzesänderung verlangt
Mit Strassburg einverstanden ist für einmal Christoph Blocher, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und zur Zeit von Perinceks Reden in der Schweiz Justizminister. Er hatte damals bei einem Besuch in Ankara erklärt, die Anti-Rassismus-Strafnorm bereite ihm «Bauchschmerzen».
Laut Tagi und Bund hält er den Richterspruch für nachvollziehbar. Der Rassismus-Artikel sei falsch konzipiert, sagte er. «Dass jemand wegen einer Meinungsäusserung verurteilt wird, die niemanden in seiner Ehre verletzt oder niemandem schadet, geht nicht. Auch dann nicht, wenn die geäusserte Meinung falsch ist», wird er zitiert.
Die SVP werde in der kommenden Session mit einer Motion eine Änderung des Rassismus-Gesetzes verlangen, das ihrer Meinung nach die Meinungsäusserungsfreiheit einschränke.
«Sonderbarer Entscheid»
Ganz anders wertet der Historiker Georg Kreis das Urteil, das er gegenüber Schweizer Radio und Fernsehen SRF als «sonderbar» bezeichnet. Kreis war bis Ende 2011 Präsident der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.
«Kreis betont, dass eine Kollision unausweichlich ist, wenn die freie Meinungsäusserung gegen den Schutz vor diffamierendem Leugnen eines Massenmords oder Genozids gestellt werde», so SRF: «Würde man sich aber ausschliesslich auf die Meinungsfreiheit beziehen, könnte ein grosser Teil von Verleumdungen gar nicht mehr als strafbar eingestuft werden», sagte Kreis gegenüber SRF.
Perincek sei bewusst als «Brandstifter» in die Schweiz gereist, um zwischen nationalen Türken und Armeniern aufzuwiegeln. Solche zu schützen, sei wohl kaum im Interesse der Schweiz. «Da geht es dann nicht mehr um Meinungsfreiheit», so Kreis.
Der Hintergrund
Der türkische Nationalist Dogu Perincek hatte 2005 an mehreren öffentlichen Reden in der Schweiz den Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich als «internationale Lüge» bezeichnet.
2007 wurde er dafür von der Waadtländer Justiz wegen Rassendiskriminierung schuldig gesprochen und mit einer Geldstrafe belegt. Im gleichen Jahr bestätigte das Bundesgericht in Lausanne den Schuldspruch. 2008 zog Perincek seinen Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Dieser teilt nun die Einschätzung der Schweiz nicht, dass ein internationaler Konsens bestehe, die Massaker an den Armeniern von 1915 bis 1917 seien juristisch als Genozid zu qualifizieren. Nur 20 von 190 Staaten hätten den Völkermord an den Armeniern als solchen anerkannt, heisst es im Urteil.
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