Deiss vor Wahl ins höchste UNO-Amt
Die UNO-Generalversammlung wird am Freitag in New York aller Voraussicht nach den früheren Bundesrat Joseph Deiss zu ihrem nächsten Präsidenten wählen. Eine Ehre für den Mann, in dessen Amtszeit als Aussenminister der Beitritt der Schweiz zur UNO erfolgt war.
Das Präsidium der Generalversammlung ist formell das höchste Amt der UNO. Im Gegensatz zu Generalsekretär Ban Ki-moon oder dem Sicherheitsrat hat der Präsident der Generalversammlung aber keine Entscheidungsmacht.
Läuft alles wie erwartet, tritt Deiss sein Amt in New York mit Beginn der 65. Sitzungsperiode am 14. September an. Und kehrt damit an den Ort zurück, der mit einem der grössten Erfolge seiner Polit-Karriere verbunden ist, dem Ja des Stimmvolks zum Beitritt der Schweiz in die Vereinten Nationen.
Deiss hatte das Hissen der Schweizer Flagge vor dem UNO-Hauptsitz in New York im September 2002 als einen der schönsten Momente seiner politischen Karriere bezeichnet.
Als damaliger Aussenminister hatte Deiss sich zuvor für ein Ja zum UNO-Beitritt eingesetzt. Einer seiner lautstärksten Kontrahenten war sein späterer Regierungskollege Christoph Blocher, der sich gegen den Beitritt gewehrt und dabei oft den Teufel an die Wand gemalt, vor dem Verlust der Souveränität, der Neutralität, der Eigenständigkeit der Schweiz gewarnt hatte.
Mann der Mitte
Lautes Poltern ist nicht die Sache von Joseph Deiss. Als Vertreter der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) war er im Bundesrat ein Mann der Mitte.
Kritische Stimmen bezeichneten Deiss als blass oder konturlos, als seriösen und kompetenten Politiker zwar, dem es aber an Charisma oder Visionen fehle. Oder es hiess, er sei ein Mann ohne Leidenschaften, ohne Eigenschaften.
Deiss, der vor seiner Karriere als Bundesrat Wirtschaftsprofessor war, kann zwar manchmal etwas steif oder unnahbar wirken. Doch hinter diesem Bild verbirgt sich auch ein Mensch mit gutem Sinn für trockenen Humor, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Der Vermittler
Deiss ist ein Mann ist, der sich als Vermittler versteht, als Brückenbauer, der Dinge von verschiedenen Seiten betrachtet, nach Kompromiss und Konsens sucht. Er ist ausgleichend und diskret und gilt als guter Verhandlungsführer, alles Eigenschaften, die ihm bei dem UNO-Amt zu gute kommen dürften.
Dass Deiss die Welt von mehr als einem Standpunkt aus betrachtet, mag mit seiner Herkunft zusammenhängen. Er kommt aus Freiburg, wo der «Röstigraben», die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Französisch, verläuft. Beide Kulturen und Mentalitäten haben ihn seit seiner Kindheit geprägt. Er spricht übrigens auch fliessend Englisch.
Die Suche nach Kompromiss und Konsens steht bekannterweise für das politische System der Schweiz. Nach der Nomination zum Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Generalversammlung hatte Deiss erklärt, seiner Meinung nach hätten vor allem traditionelle Werte der Schweiz wie Neutralität, Gute Dienste und die Fähigkeit zu Kompromissen den Ausschlag zu seinen Gunsten gegeben.
Deiss bezeichnete die Rolle des Präsidenten als bedeutend und verglich die Aufgabe mit der eines Schiedsrichters im Sport, der neutral zwischen den Teams zu vermitteln habe.
Diplomatischer Erfolg der Schweiz
Die Nomination von Deiss darf als diplomatischer Erfolg der Schweiz bezeichnet werden. Deiss wird aber während seiner Amtszeit nicht die Interessen der Schweiz vorantreiben – dies bleibt die Aufgabe des UNO-Botschafters in New York, Paul Seger.
Der Präsident der Generalversammlung hat die Rolle eines unabhängigen, neutralen Vermittlers, dessen erste Priorität die Ziele der internationalen Gemeinschaft sein müssen. Er hat keine besonderen Befugnisse, um nationale Interessen seines Landes zu vertreten.
Aber natürlich wird das Wertesystem der Schweiz, das auch Deiss symbolisiert, in gewissem Sinne zum Zuge kommen. Wichtig wird für Deiss sein, dass es ihm gelingt, vermittelnd zu wirken, Kompromisse aufgleisen zu können, um Themen, die zwischen Blöcken in der UNO umstritten sind, vorwärts zu bringen.
UNO-Reform, Millenniumsziele, Wirtschaft
Als wichtige Aufgaben der 65. Generalversammlung nannte Deiss in Interviews mit Schweizer Medien nach seiner Nomination unter anderem die UNO-Reform, die Debatte über die Millenniumsziele und Wirtschaftsfragen.
In einem Interview mit dem Zürcher Tages-Anzeiger und dem Berner Bund erklärte Deiss, der Präsident der Generalversammlung könne zum Beispiel im Reformprozess eine wichtige Rolle spielen.
Als Schweizer werde er in einer guten Position sein, um Kompromisse zu schmieden. Einerseits setze sich die Schweiz bereits stark für die Reformen ein. «Andererseits hat die Schweiz in der UNO keine so grossen Aspirationen wie zum Beispiel Länder, die ständige Mitglieder des Sicherheitsrats werden möchten.»
Was er in seinem Präsidialjahr für die Schweiz tun könne, sei auch, Goodwill zu sammeln, hatte Deiss unter anderem auf Fragen erklärt, ob das umstrittene Minarett-Verbot seine Möglichkeiten schmälern könnte, Kompromisse zu schmieden.
Unterstützung der Schweizer Mission
Der UNO-Botschafter in New York, Paul Seger, denkt, dass der Einfluss der Schweiz in der UNO mit dem Amt von Deiss zunehmen dürfte. Dass sie etwa ihre Rolle als Brückenbauerin noch stärker wahrnehmen werde als bisher.
Wobei auch Seger klar machte, dass Deiss nicht die Interessen der Schweiz voranzubringen habe, sondern dafür sorgen müsse, dass die Generalversammlung ihre Aufgaben meistern könne.
Die Schweizer Mission werde Deiss im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen, so Seger. Er rechne damit, dass die Mission zum Beispiel anderen UNO-Ländern, die gewisse Anliegen hätten, als Anlaufstelle dienen werde, und dass insgesamt etwas mehr Arbeit auf sie zukomme.
Rita Emch, swissinfo.ch, New York
Der CVP-Politiker Joseph Deiss wurde 1946 in Freiburg geboren.
Er ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.
Ab 1991 sass Deiss im Nationalrat. 1999 wurde er in den Bundesrat gewählt, wo er das Aussenministerium übernahm. 2003 folgte der Wechsel ins Wirtschaftsministerium. Im Sommer 2006 trat Deiss aus dem Bundesrat zurück.
Von 1984 bis zu seiner Wahl in den Bundesrat 1999 war Deiss Wirtschaftsprofessor an der Universität Freiburg.
1993 bis 1996 war Deiss zudem Preisüberwacher der Schweiz.
Zu den Erfolgen seiner Amtszeit als Aussenminister gehörten im Mai 2000 die Zustimmung des Stimmvolks zu den bilateralen Verträgen mit der EU und 2002 das Ja zum Beitritt der Schweiz zur UNO.
Als Wirtschaftsminister konnte Deiss 2005 mit dem Ja des Stimmvolks zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit einen weiteren Erfolg verbuchen.
Die Generalversammlung ist das Plenum der Weltorganisation, in dem alle 192 Mitgliedsstaaten unabhängig von ihrer Grösse und Macht eine gleichberechtigte Stimme haben.
Das Präsidium der Generalversammlung wechselt jedes Jahr im Rotationsverfahren unter den fünf regionalen UNO-Gruppen. Dieses Jahr ist die Gruppe Westeuropa und andere Länder (WEOG) am Zug, was der Schweiz die Kandidatur von Joseph Deiss ermöglichte.
In der Regel einigt sich die Regionalgruppe auf eine Person und schlägt der Generalversammlung danach eine Einerkandidatur vor. Dieser Vorschlag wird normalerweise nicht angefochten und der Kandidat per Akklamation gewählt.
Deiss hatte sich in der Gruppe, zu der neben den Staaten Westeuropas Israel, die Türkei, die USA, Kanada, Neuseeland und Australien gehören, in der Ausmarchung gegen den ehemaligen belgischen Aussenminister Louis Michel durchsetzen können.
Zu den Aufgaben des Präsidenten der Generalversammlung gehört die Gestaltung der jährlichen Agenda, was in Zusammenarbeit mit einem Präsidial-Ausschuss erfolgt.
Der Präsident leitet die zweiwöchige Generaldebatte und die Sondersitzungen, die im Verlauf des Jahres angesetzt werden können. Ist der Präsident während einer Sitzung verhindert, überträgt er die Leitung einem seiner 21 Vizepräsidenten.
Zudem ist er in Zusammenarbeit mit UNO-Staaten, dem UNO-Generalsekretär, den Vorsitzenden der sechs Unterausschüsse der Generalversammlung an der Erarbeitung von konsensfähigen Resolutionsentwürfen zu Themen beteiligt, die der Versammlung vorgelegt werden sollen.
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