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Das Plebiszit – Macrons Vision von direkter Demokratie

Emmanuel Macron an einer Diskussion mit Bürgern
Diametral auseinander: Die Standpunkte von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und den "Gelben Westen" über direkte Demokratie könnten nicht weiter auseinander liegen (Bild von der Debatte in Valence vom 24. Januar 2019). Keystone

"Das Schweizer Modell ist ungeeignet": So lautet die Antwort von Frankreichs Präsident auf die Forderung der "Gilets Jaunes" nach direkter Demokratie. Emmanuel Macrons Vorstellung eines "Referendums" ist derjenigen der Protestbewegung diametral entgegengesetzt.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Als Reaktion auf die anhaltenden Massenproteste hat Frankreichs Staatspräsident eine «grosse nationalen Debatte» lanciert. Eines von vier Hauptthemen ist Demokratie und Bürgerschaft.

Seit Ausbruch der Krise, welche die «Gelben Westen» mit ihren Demonstrationen auslösten, sind die Schweiz und ihr direktdemokratisches Instrument der Volksinitiative zur grossen Inspiration beim französischen Nachbarn geworden.

Lange hats gedauert. Denn Frankreich hat uns mit der Revolution die Menschenrechte gebracht. Darauf aufbauend, führten aufmüpfige Kreise in der Schweiz die Volksrechte ein – als erstes Land in der Welt. Es waren dies die Volksinitiative und das Referendum, das Volksveto gegen Gesetze des Parlaments.

Macron macht die Schweiz zum Sonderfall

Wieder zurück zur Gegenwart. Die Antwort von Monsieur le Président auf die Forderungen der Protestierenden kam umgehend: «Frankreich ist nicht die Schweiz und die Schweiz funktioniert nicht so gut, wie wir denken», sagte Macron der französischen Wochenzeitung Le Point. 

«Das Schweizer Modell ist ungeeignet. Und ausserdem beginnen die Schweizer – ich erinnere mich nicht mehr genau, von wem dieser Spruch stammt – immer mit Fragen von links und enden mit Antworten von rechts.»

«Mit dieser Art von Argumentation wird die Reflexion über die direkte Demokratie nicht sehr weit gedeihen», so die Reaktion von Olivier Meuwly, einem Historiker und Politikwissenschaftler aus der französischsprachigen Westschweiz. 

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Polizei gegen Gilets jaunes. Podcast Schweizer Radio SRF vom 28. Januar 2019

Verlieren bedeutet oft auch gewinnen

Fragen, aufgeworfen von links, und Antworten darauf von der rechten Seite? «Wenn wir uns die Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen ansehen, liegt Macron damit nicht ganz falsch: Initiativen, die oft von links kamen, wurden von den Bürgern meist abgelehnt», so Meuwly.

«Aber wir müssen den Kommentar des französischen Präsidenten etwas differenzieren», fährt er fort. «Erstens hat die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) das Instrument der Volksinitiative in den letzten zwanzig Jahren stark genutzt. Und zweitens gilt eines zu bedenken: Auch wenn Volksinitiativen an der Urne scheitern, so hinterlassen sie doch ihre Spuren. Die Lösungen, die sie in den Vordergrund stellen, sind oft austarierter, moderater. Volksinitiativen regen ständig die politische Debatte an.»

Kein Importmodell

Für Macron sind die Unterschiede der politischen Systeme zwischen der Schweiz und Frankreich zu gross, als dass sein Land das Schweizer System oder Teile davon übernehmen könnte. «Es gibt in der Schweiz ein föderales System, eine wechselnde Präsidentschaft und sehr unterschiedliche politische Gleichgewichte», sagte Macron. «Wir sind ein gewalttätiges Volk, und das seit Jahrhunderten. Frankreich ist nicht die Schweiz.»

«Wahr ist, dass die direkte Demokratie in der Schweiz das Ergebnis einer mindestens 150-jährigen Geschichte ist», sagt Meuwly. Jeder direkte Import des Schweizer Modells wäre gefährlich. Die in der Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffenen direktdemokratischen Instrumente «sind sowohl von der Romantik der alpinen Gemeinschaften als auch vom Rationalismus der Aufklärung inspiriert», sagt der Historiker.

Auf der einen Seite die Landsgemeinde, auf der anderen…. Condorcet. Ein Franzose. Vordenker der Volksinitiative, wie sie im 19. Jahrhundert in der Schweiz entwickelt und eingeführt wird.

Condorcet, «Erfinder» der Volksinitiative

Im Februar 1793, fast einen Monat nach der Hinrichtung von König Louis XVI – die er ablehnt – legt der ehemalige Enzyklopädist Nicolas de Condorcet dem Konvent der neuen Republik einen Verfassungsentwurf vor. Sein darin verbrieftes Recht auf «Petition» und «Zensur» ermöglicht es jedem Bürger, selber einen Gesetzesvorschlag zu unterbreiten. 

«Unterstützen die Gemeinde und das Departement den Vorschlag des Bürgers, muss das französische Parlament, die Nationalversammlung, diesen behandeln.»

Ab hier wird es kompliziert. Ist der Bürger mit dem Entscheid des Parlaments über seinen Vorschlag nicht einverstanden, kann er die Nation anrufen, sprich, die Franzosen über seinen Vorschlag abstimmen lassen.

Drastische Konsequenzen

Was, wenn die Stimmbürger Ja zu seinem Vorschlag sagen, also das Parlament desavouieren? Dann wird dieses aufgelöst und die Abgeordneten können nach Hause gehen – Tschüss! Aber das ist noch nicht alles: die entlassenen Parlamentsmitglieder werden aus dem Verkehr gezogen, da für mehrere Jahre nicht mehr wählbar.

Aber Condorcets Recht auf «Petition» und «Zensur» schaffte den Sprung in die Revolutionäre Verfassung von 1793 nicht endgültig. In der Eidgenossenschaft waren es vor allem Genf und St. Gallen, die sich im Kampf für mehr Bürgerrechte von Condorcets Vorschlag inspirieren liessen, wie die Juristin Anne-Cécile Mercier schreibt.

Misstrauen gegenüber Parlamentariern

Condorcet hatte eine natürliche Skepsis gegenüber den gewählten Volksvertretern. «Die Menschen haben sich so sehr daran gewöhnt, anderen Menschen zu gehorchen, dass Freiheit für die meisten von ihnen das Recht ist, sich nur selbst gewählten Meistern zu unterwerfen», so seine sarkastische Beobachtung.

Ähnliches Misstrauen herrscht im heutigen Frankreich gegenüber den gewählten Politikern. Zum Beispiel bei Etienne Chouard, einem der geistigen Väter der Bewegung der «Gelben Westen». Der Professor, der sich 2005 als Kämpfer gegen die  Europäische Verfassung einen Namen gemacht hatte, prägte folgenden Satz: «Wählen heisst, seine Souveränität aufzugeben».

Chouard fordert, wie die meisten «Gelben Westen», das «référendum d’initiative citoyenne, zu Deutsch eine Abstimmung über die Einführung der Bürgerinitiative. Die berühmte Kurzformel RIC, die auf dem Rücken vieler gelber Warnwesten der Demonstranten prangt, würde es den Bürgern Frankreichs nicht nur ermöglichen, per Abstimmung die Verfassung zu ändern (wie in der Schweiz), sondern auch Gesetze zu erlassen. Und gewählte Politiker zu entlassen.

Das gute altmodische bonapartistische Plebiszit

«Das RIC macht mich wütend», verschaffte sich Frankreichs Ministerpräsident Edouard Philippe in der «grossen Debatte» Luft. Damit ist klar: Die Regierung plant vorerst nicht, die durch die «Gilets Jaunes» ausgelöste Krise mit direkter Demokratie zu entschärfen. Da spielt es also keine Rolle, dass der geistige Vater der Volksrechte ein Franzose war.

Am Donnerstag, während einer Sitzung im Rahmen der «grossen Debatte» im Burgund, hat Präsident Macron aber die Tür zu einer Abstimmung über eine Bürgerinitiative nicht ganz zugestossen. Bedingung allerdings seien «Regeln» und «Grenzen» einer solchen Abstimmung. Doch was bedeutet dies?

Offensichtlich zieht der Präsident das gute alte «bonapartistische Referendum» vor. Um der «grossen Debatte» einen institutionellen Rahmen zu verleihen, plant Macron, am 26. Mai 2019, dem Tag der Europawahlen, eine Abstimmung. Die Franzosen sollen sich an der Urne gleich zu mehreren Fragen äussern. So etwa zur Reduktion der Anzahl Sitze der Abgeordneten sowie die Begrenzung ihrer Mandate.

Man beachte den feinen Unterschied: Die von Macron anberaumte Abstimmung ist ein klassisches Plebiszit, also eine Abstimmung, die «von oben auferlegt» ist, nicht wie bei einer Volksinitiative aus der Bevölkerung kommt. Solche Plebiszite haben auch schon frühere Präsidenten Frankreichs durchgeführt, von De Gaulle bis Mitterrand. Es «ist die Negation der direkten Demokratie», bedauert Meuwly.

Übrigens: das aktuellste Beispiel eines Plebiszits dürfte als einigermassen abschreckendes Beispiel in die Geschichte eingehen: der Brexit…

Das halbe Volksrecht à la Sarkozy

Der Input zum RIC stammte von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy und seiner rechten Mehrheit, die 2008 das Referendum über eine «geteilte» oder «gemeinsame» Initiative einführten. Sie kann sowohl von oben als auch von unten auf die Agenda gesetzt werden. 

«Geteiltes» Volksrecht deshalb, weil es die Zustimmung von einem Fünftel der Parlamentarier der Nationalversammlung sowie die Unterstützung von mindestens einem Zehntel der registrierten Wählerinnen und Wähler Frankreichs benötigt. Das entspricht etwa 4,7 Millionen Franzosen.

Das Ganze hat allerdings einen Haken: dieses Volksrecht ist ein völliger Papiertiger – es wurde bis heute nicht ein einziges Mal benutzt.

Hürden gesenkt

Im vergangenen Dezember legte der republikanische Abgeordnete Julien Aubert einen Verfassungsentwurf vor. Sein Ziel: Sarkozys gemeinsame Initiative demokratischer zu machen, sprich, die damit verbundenen Hürden zu senken. 

Die Zahl der nötigen Unterschriften wurde auf 1,5 Millionen reduziert, und es braucht nur noch die Unterstützung von vier Parlamentariern aus vier verschiedenen politischen Lagern.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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