Echte Inklusion – friedliche «Waffe» der Demokratie gegen Krieg und Krisen
Der weltweite Aufschwung der Autokratien, die Pandemie, Fake News, Putins Krieg gegen die Ukraine: Im Auge dieser Bedrohungen müssen Demokratien resilienter werden, sagen Politiker:innen unisono. Damit Demokratien robuster werden, müssen sie auch gerechter werden, fordern Aktivistinnen und Experten – mit umfassender Teilhabe aller Minderheiten an den politischen Prozessen. Dieser so genannten Inklusion widmet swissinfo.ch eine Serie.
«Der Krieg Russlands gegen die Ukraine richtet sich gegen alle Demokratien in Europa.» Und: «Resilienz ist zentral für Demokratie.»
Es waren dies zwei Kernsätze, die an der internationalen Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine, die jüngst in Lugano in der Südschweiz stattfand, wie Mantras wiederholt wurden. Etwa durch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ruslan Stefanchuk oder Irène Kälin, den Präsident:innen der Parlamente der Ukraine und der Schweiz.
Dabei ist die Frage, wer in einer Demokratie politisch teilhaben kann und wer von den politischen Rechten ausgeschlossen ist, absolut grundlegend.
Weltweit stecken Demokratien in Krisen. Seit rund 15 Jahren gibt es ein Trend zu Autoritarismus und Diktaturen.
Die Schweiz ist hingegen ein Hort der Stabilität. In der Regierung sitzen fast alle Parteien kollegial, vorgezogene Neuwahlen gibt es nie – und trotzdem können die stimmberechtigten Bürger:innen in Initiativen und Referenden so oft über Themen abstimmen wie in keinem anderen Land der Welt.
Doch die Geschichte der Schweizer Demokratie ist auch eine Geschichte darüber, wer mitbestimmen darf und wer nicht. Bei der Gründung des Bundesstaates 1848 waren nur 23% der Bevölkerung stimmberechtigt und die längste Zeit ihrer Geschichte hat die Schweizer Demokratie die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen – erst seit gut 50 Jahren haben Frauen politische Rechte. Doch bis heute können viele in der Schweiz nicht mitreden.
Wer mitreden darf und wer nicht, ist politisch umstritten. Die deutliche Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hat bisher eine Ausweitung der politischen Rechte, etwa auf niedergelassene Ausländer:innen, stets abgelehnt. So wie die JSVP-Politikerin und Juristin Demi Hablützel, die in ihrem Meinungsbeitrag schreibt: «Politische Rechte sind kein Tool zur Inklusion».
Doch der heiklen Frage, wer wie umfassend mitbestimmen darf, müssen sich Demokratien immer wieder neu stellen. Besonders wenn die liberale Demokratie global nicht mehr unwidersprochen der Normalfall ist, müssen demokratische Staaten den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
Deshalb widmet sich SWI swissinfo.ch in dieser Serie der politischen Inklusion. Wir befassen uns mit Debatten und Diskussionen darum, wer in der Schweiz wieviel mitbestimmen darf. Wir sprechen mit Expert:innen. Wir stellen Menschen und Bewegungen vor, die sich für umfassende politische Inklusion verschiedener Minderheiten und Marginalisierten in der Schweiz einsetzen.
Übrigens gehörten auch die Auslandschweizer:innen lange zu den Ausgeschlossenen – erst seit 1992 dürfen sie wählen und abstimmen.
Eine weitgehende oder tiefe Inklusion spielt eine Schlüsselrolle im Bestreben, das Immunsystem der Demokratien von innen heraus zu stärken, also Demokratien resilient zu machen. Das Hauptargument dafür liefert der Demokratieforscher Marc Bühlmann:
«Wird in einer Demokratie das Elektorat (der Kreis der Stimmberechtigten, die Red.) ausgeweitet, erhöht das in einer Debatte das diskursive Potenzial der eingebrachten Argumente.» Für Laien besser verständlich sagt es der Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bern so:
«Wer Gruppen wie Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte, die 16- und 17-Jährigen oder Menschen mit Behinderungen den Zugang zu den politischen Rechten verwehrt, beraubt sich anderer Perspektiven. Aus demokratietheoretischer Sicht verschenkt man also etwas.»
Diversität – Demokratie-Ressource schlechthin
Grundlage von diesem «Etwas» ist die Diversität. Sie ist so etwas wie das grosse ungeschriebene Gesetz der Demokratie: Diese setzt bewusst auf die Verschiedenheit und Vielstimmigkeit ihrer Bürger:innen, um mit ihnen Lösungen zu finden, die für möglichst viele gut sind.
In der Wirtschaft ist das Verständnis von Diversität als Ressource schon weitgehend Mainstream. Um zum Erfolg zu kommen, zapfen Unternehmen gezielt ihren Pool an Mitarbeitenden an. Die Differenzen betreffend Altersgruppen, Bildungslevels, Biografien, Geschlechtern und Identitäten, Werten, Sprachen und Kulturen sollen mithelfen, Strategien, Produkte und das Betriebsklima zu optimieren sowie Fehler und Risiken zu minimieren.
Der CEO, der als einsamer Wolf über «seinen» Konzern entscheidet, wird zum Auslaufmodell. Nehmen wir den traumatischen Absturz der Schweizer Fluggesellschaft Swissair 2001: Hauptgrund war einerseits die völlig verfehlte, weil hochriskante Strategie ihres letzten Chefs. Sie hatte daraus bestanden, reihum marode Klein-Airlines einzukaufen. Das Grounding, zu dem auch «9/11» beitrug, wäre andererseits vermutlich so nicht Tatsache geworden, hätte ein breit aufgestelltes Management bei der Entwicklung der Strategie mitreden können.
Breiter Nutzen
Zurück zur Politik: Die smarte Nutzung von Diversität als Ressource erscheint so als ur-demokratischer Sinn und Zweck der Demokratie. Die wichtigsten Vorteile:
- politische Teilhabe als Instrument zur Integration;
- grösserer Pool an Argumenten;
- lebendige öffentliche Debatte;
- mehr Entscheidungsgrundlagen, solidere Lösungen;
- bessere Repräsentation von verschiedenen Bevölkerungsgruppen;
- Moderation von Differenzen statt Polarisierung, Ausgrenzung oder Eskalation;
- höhere Legitimität von Ergebnissen von Wahlen und Abstimmungen;
- bessere Abstützung von Entscheiden;
- mehr Vertrauen in den Staat und seine politischen Institutionen;
- Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts
- Bildung des politischen Selbstverständnisses der Bürger:innen («political self»)
- mehr Stabilität.
- Diversität statt Homogenität
- Toleranz statt Ausgrenzung und Diskriminierung;
- Gerechtigkeit statt Privilegien;
- mehr Resilienz zur Abwehr von Krisen und Angriffen.
Inklusion – Antithese zu Krieg
Der Krieg Putins gegen den Nachbarn Ukraine ist wohl nicht zuletzt das Resultat davon, dass er sowohl im Kreml als auch in ganz Russland das «diskursive Potenzial der Argumente» praktisch vollständig vernichtet hat. Kritische Stimmen – Politiker:innen, Aktivist:innen und Medien – hat er zum Verstummen gebracht. Mit Verfolgung, Straflager, Bussen und Verboten.
Putin ist der Alleinherrscher, der mit einem Befehl Zehntausende Menschen in den Krieg schicken und den Rest der Welt davor erzittern lassen kann.
Steht an einem Ende von Demokratie «tiefe» Inklusion, stehen am anderen Ende totalitäre Herrschaft, Diktatur, Tod und Verderben.
Schweiz mit begrenzter Inklusion
Doch Inklusion, ausgerechnet dieses «demokratischste aller Demokratie-Prinzipien», hat in vielen Demokratien einen schweren Stand. Dies gilt gar auch für die Schweiz, die oft als Modelldemokratie gepriesen wird.
Sie zählt heute 8,6 Millionen Menschen. Über 25% davon sind Menschen mit Migrationsgeschichte ohne Schweizer Pass. Als solche haben sie in der Demokratie Schweiz keine politischen Rechte.
Bei den Erwachsenen haben gar 37% keinen Schweizer Pass und sind folglich politisch ausgeschlossen.
Frauen fast 125 Jahre ausgeschlossen
Vor den Zugewanderten hatten die Schweizer Frauen dieses Schicksal geteilt. Sie erhielten das Stimm- und Wahlrecht erst 1971. Die Demokratie Schweiz war 123 Jahre lang eine reine Männerveranstaltung und damit höchstens eine halbe Demokratie.
Im liberalen Sinne einer Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht ist die 1848 gegründete Schweiz also erst seit gut 50 Jahren eine volle Demokratie.
Ausgeschlossen sind bis heute in der Schweiz auch Menschen mit Beeinträchtigungen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, sowie die 16- und 17-Jährigen.
Abstammungs- oder Blutsprinzip
«Die Schweizer Stimmbürgerschaft darf nicht gratis sein, es gibt sie nur gegen Leistung. Und das ist die Einbürgerung», sagte Thomas Burgherr, Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) 2016 an einer Demokratietagung.
Das Diktum «Stimmrecht nur den Staatsbürger:innen» entspricht bis heute der Meinung der Mehrheit in der Schweiz. Im Parlament reicht die Linke regelmässig Vorstösse zur Einführung des Stimmrechts für Menschen mit Migrationsgeschichte ein – sie werden von der bürgerlichen Mehrheit ebenso regelmässig versenkt.
Jüngstes Beispiel: Anfang Juni lehnte der Nationalrat zwei parlamentarische InitiativenExterner Link ab, welche die politischen Rechte für Menschen mit Migrationsgeschichte nach fünf Jahren in der Schweiz forderten. Die Grünen hatten für diese grosse Gruppe das Stimm- und Wahlrecht auf nationaler Ebene verlangt, die Sozialdemokraten auf kommunaler Ebene.
Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Schweizer Staatsbürgerschaft eine Belohnung für eine erfolgreiche Assimilierung sein soll.
Freiheit und Gerechtigkeit nur mit umfassender Inklusion
Diversitäts-Beraterin Estefania Cuero gehört zu jener Gruppe von Forscher:innen und Aktivist:innen, die Inklusion direkt an die beiden grossen Grundwerte der Demokratie knüpft: Freiheit und Gerechtigkeit. Im Fokus hat Cuero, die an der Universität Luzern doktoriert, insbesondere benachteiligte Menschen, darunter jene mit Migrationsgeschichte.
«Gerade in der Demokratie Schweiz sind sozial Benachteiligte ausgeschlossen. Für sie bedeuten die Privilegien und Standards der anderen eine Ausgrenzung und Benachteiligung», sagt Cuero. Für die Inklusion neuer Gruppen müssten Menschen mit Privilegien bereit sein, ihre Ressourcen zu teilen, sagt sie.
Auch der Schweizer Publizist und Buchautor Roger de Weck verknüpft Inklusion in die politische Teilhabe direkt mit dem Freiheitsbegriff, wenn er sagt: «Der Freiheit zur Verteidigung meiner Privilegien müssen wir die Freiheit aller entgegenstellen.»
Kehrseite: Fehlende Repräsentation
Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero, benennt gewissermassen die Kosten der begrenzten Inklusion in der Demokratie Schweiz: die mangelhafte Repräsentation von Minderheiten.
«In der Schweiz fehlt vielen Menschen das Vertrauen in den Staat, weil sie und ihre Gruppe nirgends repräsentiert sind», sagt Ameti, die als Neunjährige mit ihrer Familie vor dem Krieg in Ex-Jugoslawien aus Bosnien in die Schweiz geflüchtet war.
«Paradox der Demokratie»
Es gibt war in der Schweiz politische Rechte für Ausländer:innen. Doch das sind kleine Inseln: Nur zwei von 26 Kantonen sowie rund 380 der insgesamt 2148 Schweizer Gemeinden kennen das Stimmrecht für Nicht-Schweizer:innen.
Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bern, spricht von einem «Paradox der Demokratie Schweiz»: Weil sich die Mehrheit der abstimmenden Bürger:innen eher gegen eine Ausweitung des Stimmrechts – etwa für unter 18-Jährige – ausspricht, geht die Erweiterung der Demokratie kaum voran. Zugespitzt könnte man sagen: Die direkte Demokratie bremst die Demokratisierung der Demokratie aus.
Ambivalente USA
Ein widersprüchliches Bild geben auch die USA ab, die erste Modelldemokratie der Moderne. Einerseits sind sie ein klassisches Einwanderland, das allen auf ihrem Territorium Geborenen die US-Staatsbürgerschaft in die Wiege legt.
Andererseits betreiben insbesondere Trump-treue Gouverneure in republikanischen Bundesstaaten eine so genannte voter suppression, die Millionen von stimmberechtigten US-Bürger:innen von Wahlen ausschliesst. Oder so hohe Hürden aufbaut, dass viele von einer Beteiligung abgeschreckt sind. Alles per Gesetz – also legal.
Allein die Gruppe der Haftentlassenen machten bei den letzten US-Präsidentenwahlen 2020 rund sechs Millionen Menschen aus. Dazu kommen die aktuell 2,1 Millionen Gefängnisinsass:innen.
Zur voter suppression zählt auch die Erhöhung bürokratischer Hürden zur Wahlteilnahmen, etwa an Universitäten. Und die Diskreditierung der Briefwahl als «Einfallstor für Wahlfälschung», allen voran durch Ex-Präsident Donald Trump.
Diese Praktiken hatten sogar innerhalb der Republikaner für Kritik gesorgt. «Diese Gesetze werden nicht im Interesse des Volkes verabschiedet, sondern im Interesse der politischen Partei, welche die Legislative des Bundesstaats kontrolliert», sagte Dane Waters, ein politischer Stratege der Republikaner aus Virginia, im Vorfeld der letzten «Presidentials» zu swissinfo.ch.
Taiwan – einmal mehr
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Sie kommen aus Taiwan. Dort war Digitalministerin Audrey Tang eine Schlüsselfigur bei der Einführung der so genannten Co-Governance. Gemeint ist das gemeinsame, inklusive Regieren. «Wir arbeiten nicht für die Menschen, sondern mit ihnen zusammen«, sagte Tang Ende 2021 an einer Veranstaltung mit Schweizer Demokratie- und Digitalspezialist:innen.
Ihre Bilanz: «Wir bekämpften die Pandemie ohne Lockdowns, die ‹Infodemie› ohne Zensur. Das verdanken wir nur der Kooperation mit den Menschen.»
Im Ansatz von «Co-Gov» sind Teenager und selbst Schulkinder eingeschlossen. Auch sie können auf Beteiligungsplattformen persönliche oder gesellschaftliche Probleme aufs Tapet bringen und Verbesserungsvorschläge machen. Erhalten sie den Support von 5000 Personen, setzen sich alle Stakeholder und Behörden inklusive Initiant:innen an einen Tisch und erarbeiten die Lösung. Gemeinsam und auf Augenhöhe.
Was in Zeiten wie diesen als Märchen tönt, ist messbare Realität: Im «Democracy Index» des britischen Magazins «The Economist» hat sich Taiwan in den Pandemiejahren 2020 und 2021 um nicht weniger als 23 Plätze in die Top Ten katapultiert.
Mit Platz Acht hat Taiwan sogar die Schweiz überholt. Sie, deren direkte Demokratie auch Audrey Tang bewundert, stiess im letzten Jahr ihrerseits von Platz 12 auf 10 vor.
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