Das radikalste Volksrecht – in der Schweiz nur Drohkulisse
In sieben Kantonen der Schweiz können die Stimmbürger:innen Behörden abberufen. Das Instrument, der englische Begriff dafür lautet Recall, dient primär als Ventil – und steht vielleicht gerade deshalb in seiner Bedeutung im Schatten von Volksinitiative und Referendum.
Eigentlich sollte die Schweiz von einer «beständigen Revolution» erschüttert werden. «Organisierte Anarchie» sollte das Land beherrschen. Davor wurde jedenfalls 1846 in einer Debatte im Berner Verfassungsrat gewarnt.
Die Aussagen bezogen sich auf den Vorschlag der Radikalen, ein Abberufungsrecht für den Grossen Rat einzuführen. 8000 Stimmberechtigte sollten den Antrag stellen können, das Parlament aufzulösen und neu zu wählen. Falls dieses Quorum erreicht wird, sollte das Volk über das Begehren befinden.
Heute kennen sieben der insgesamt 26 Kantone ein Abberufungsrecht. Anders als damals von seinen Gegnern befürchtet, hat dieses Volksrecht indes keine «beständige Revolution» zur Folge – im Gegenteil: Es fristet seit seiner Einführung ein Schattendasein.
Dass das Volk Amtsträger:innen nicht nur wählen, sondern ihnen ihr Mandat (frühzeitig) auch wieder entziehen kann, war schon Teil des politischen Systems im alten Rom. Einzelne Gemeinden in den englischen Kolonien in Amerika führten das Abberufungsrecht bereits im 17. Jahrhundert ein.
Theoretisch untermauert wurde es aber erst im Zuge der Aufklärung und der französischen Revolution. 1792 stimmte der Nationalkonvent in Paris für ein Gesetz, mit dem die Wähler – damals nur Männer – ihre Abgeordneten wieder abberufen können. Dieses trat aber nie in Kraft.
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Verschiedene Länder kennen in der einen oder anderen Form ein Abberufungsrecht bzw. «Recall». So können in einigen amerikanischen Gliedstaaten der Gouverneur oder die Gouverneurin, einzelne Richter:innen oder gliedstaatliche Parlamentarier:innen vorzeitig ihres Amtes enthoben werden.
Auch Japan kennt das Instrument auf lokaler Ebene, während es in einigen südamerikanischen Ländern sogar für das Staatsoberhaupt existiert.
Regierung, Parlament – oder alle Behörden?
In der Schweiz wurde das Abberufungsrecht erstmals in der Regenerationszeit im Kanton Waadt vorgeschlagen, und zwar anlässlich der Totalrevision der Kantonsverfassung 1845 – damals indes noch ohne Erfolg.
Ein Jahr später war es soweit: Das Volksrecht wurde im Kanton Bern eingeführt. Es folgten Aargau, Schaffhausen (beide 1852), Basel-Landschaft (1863), Thurgau, Luzern, Solothurn (1869), Tessin (1892) und Uri (1915). Ende 2021 Jahr kam Genf dazu. Einige Kantone verabschiedeten sich später wieder davon.
Anders als direktdemokratische Instrumente wurde das Abberufungsrecht nicht primär vonseiten der demokratischen Bewegung gefordert, sondern von verschiedenen Seiten angestossen, in Bern etwa von den Radikalen, während in Solothurn und Uri Liberale die Forderung lancierten.
Schaffhausen: Seit 1852 können 1000 Stimmberechtigte die Abberufung des Grossen Rats oder der Kantonsregierung (Regierungsrat) verlangen. Im Jahr 2000 wurde die Amtsenthebung des Regierungsrats verlangt, nachdem die Regierung den Kauf einer Immobilie zu einem zu hohen Preis genehmigt hatte. Das Stimmvolk lehnte die Abberufung deutlich ab.
Thurgau: Seit 1869 können 20’000 Stimmberechtigte die Abberufung des Grossen Rats oder der Kantonsregierung verlangen.
Solothurn: Seit 1869 können 6000 Stimmberechtigte die Abberufung des Grossen Rats oder der Kantonsregierung verlangen.
Bern: Seit 1886 können 30’000 Stimmberechtigte die Gesamterneuerung des Grossen Rats oder der Kantonsregierung verlangen.
Tessin: Seit 1892 können 15’000 Stimmberechtigte vom Grossen Rat die Abberufung des Regierungsrats verlangen.
Uri: Seit 1915 können 600 Stimmberechtigte die Abberufung einer Behörde verlangen.
Genf: Ab Juni 2023 können 75% des Kantonsparlaments und die Volksmehrheit ein einzelnes Regierungsmitglied abberufen.
Bei der Ausgestaltung des Abberufungsrechts gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Kantonen. Während im Kanton Tessin nur die Regierung abberufen werden kann, erstreckt sich das Recht in Bern, Schaffhausen, Thurgau und Solothurn auf Legislative und Exekutive und in Uri gar auf sämtliche gewählte Behörden.
Auch hinsichtlich der erforderlichen Unterschriften bestehen deutliche Differenzen. Während in Bern 30’000 Unterschriften und in Thurgau beachtliche 20’000 nötig sind, um eine Behörde dem Verdikt des Volkes zu unterstellen, reichen in Uri bereits 600 und in Schaffhausen 1000, also gleich viel, wie für das Zustandekommen des fakultativen Referendums nötig sind (dafür hat man im Thurgau immerhin sechs Monate Zeit, während im Tessin die erforderlichen 15’000 Unterschriften innerhalb von 60 Tagen gesammelt sein müssen).
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Im Tessin gibt es darüber hinaus die Einschränkung, dass die Abberufung frühestens ein Jahr nach der letzten Wahl und spätestens ein Jahr vor der nächsten Wahl verlangt werden kann. Uri und Tessin sind die einzigen Kantone, die in ihren Verfassungen das Abberufungsrecht auch auf Gemeindeebene vorsehen.
In der Mottenkiste
Zur Anwendung kam das neue Recht – im Gegensatz zu den im gleichen Zeitraum eingeführten Instrumente des Referendums und der Initiative – selten. Abstimmungen über die Abberufung einer Behörde gab es in Bern (1), Aargau (1) und Schaffhausen (1).
Erfolgreiche Abberufungsbegehren sind sogar noch seltener: Nur ein einziges Mal, 1862 im Aargau, wurde der Grosse Rat tatsächlich abgesetzt. Hintergrund war die Debatte über die Judenemanzipation.
Im Gegensatz zu anderen Ländern kann in der Schweiz nicht ein einzelnes Mitglied einer Behörde, sondern lediglich die Behörde als Ganzes abberufen werden. Das entspricht dem schweizerischen Modell der Kollegialregierung und dem Proporz-Parlament. Demgegenüber fokussieren Länder wie die USA stärker auf die individuelle Rechenschaftspflicht und infolgedessen auf einzelne Amtsträger.
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Eine Ausnahme stellt der Kanton Genf dar: Dort können eine Mehrheit des Parlaments und des Volkes an der Urne ein einzelnes Regierungsmitglied abberufen. Es ist dies die «Quittung» auf den Fall Maudet, einen der grössten Schweizer Politskandale der letzten Jahre.
In einem Verfahren warf die Genfer Staatsanwaltschaft Pierre Maudet Vorteilsnahme vor, weil er sich und seine Familie 2015 vom Königshaus der Arabischen Emirate nach Abu Dhabi einladen liess.
Maudet stritt alle strafrechtlichen Vorwürfe ab und sagte dabei nachweislich die Unwahrheit. Trotzdem verweigerte er den von allen Seiten geforderten Rücktritt und wurde im März 2021 in den regulären Genfer Kantonswahlen abgewählt.
Eine Art von Abberufungsrecht gibt es übrigens auch auf Bundesebene. Wird eine Initiative auf Totalrevision der Bundesverfassung angenommen, hat dies die Auflösung und Neuwahl der Bundesversammlung zur Folge. Ein solches Begehren wurde bisher erst einmal eingereicht, in den 1930er-Jahren durch Frontisten und Jungkonservative. Das Begehren wurde in der Volksabstimmung 1937 klar verworfen.
Doppeltes Ventil
Laut dem 2003 verstorbenen Schweizer Rechtswissenschafter Alfred Kölz ist das Abberufungsrecht das «am wenigsten bekannte und zugleich spektakulärste Volksrecht». Gerade seine Spektakularität könnte der Grund sein für den verhältnismässig seltenen Gebrauch. Denn das Abberufungsrecht ist ein «Ventil».
Eine solche Ventilfunktion hat in der Schweiz indes schon die direkte Demokratie. Durch Volksinitiative und Referendum können Legislative und Exekutive effektiv kontrolliert werden. Entscheiden sie «falsch», ist es naheliegender, den Entscheid in einer Volksabstimmung umzustossen, als gleich die ganze Regierung oder das ganze Parlament aufzulösen (zumal dies die Entscheidung selbst nicht korrigiert).
Das bedeutet nicht, dass das Abberufungsrecht nicht dennoch in gewissen Situationen sinnvoll sein kann. Diese Situationen sind unter den Bedingungen der direkten Demokratie aber seltener als in Systemen, in denen mehr Macht bei Regierung und Parlament liegt.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 23. November 2018 im Blog Napoleons NightmareExterner Link. Die Aktualisierung erfolgte durch swissinfo.ch.
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