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Demokratie-Forschung: Kritisches Zeugnis für Schweizer Corona-Notregime

Bundesrat in einer Reihe
Damals waren Hygienemasken in der Schweiz noch Mangelware: Die Bundesräte Ueli Maurer, Guy Parmelin und Alain Berset (v.l.n.r.) am 20. März 2020 an einer Medienkonferenz in Bern. Keystone / Peter Klaunzer

Covid-19 hält der Welt den Spiegel vor. In schwachen Demokratien rissen Regierungen die Macht weiter an sich. In starken Demokratien hingegen wurde auf Notrecht meist verzichtet. Doch nicht so in der Schweiz.

Die Schweiz ist eine starke Demokratie. Seit der (späten) Einführung des Frauenstimmrechts vor einem halben Jahrhundert spielt der föderal aufgebaute und direktdemokratisch verankerte Bundesstaat in internationalen Vergleichen stets in der Champions League der Demokratie mit.

Das zeigt sich auch in der Corona-Pandemie, welche die Rahmenbedingungen des Alltags, der Wirtschaft und der Politik weltweit verändert hat. Die Schweiz bestätigt zunächst den europäischen Trend: Individuelle Freiheiten werden auch in Krisenzeiten hochgehalten. Die Machtkonzentration beim Bundesrat während der ersten Corona-Welle lässt die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern aber ungewohnt autoritär aussehen.

Eingriffe in die Grundrechte

Als die Corona-Pandemie vor einem Jahr auch Europa erreichte, reagierten alle Staaten mit mehr oder weniger einschneidenden Massnahmen. Dabei wurden vielerorts auch Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit, die Medienfreiheit oder gar die Meinungsäusserungs-Freiheit eingeschränkt.

Auch bei der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung kam es zu Veränderungen, die sich aber teilweise nur noch bedingt durch die epidemiologische Bedrohungslage oder den Zustand des eigenen Gesundheitswesens erklären lassen. Vielmehr nutzten Regierungen in Staaten wie Polen, Ungarn und Serbien, die Krise, um ihre Macht auszuweiten.

Dies zeigt eine neue Demokratie-Studie, die vom Aarauer Zentrum für DemokratieExterner Link (ZDA) am 6. April veröffentlicht wurde. Sie weist nach, dass Staaten mit hoher Demokratiequalität Covid-19 durchwegs mit weniger Einschränkungen der Grundrechte begegnet sind als solche mit tiefer Demokratiequalität.

Umgekehrt hielten sich die Exekutiven im demokratisch gut aufgestellten Skandinavien an die etablierte Gewaltenteilung. Typisch dafür ist Schweden, wo bei der initialen Bekämpfung der Pandemie nicht die Regierung, sondern die Gesundheitsbehörden das Zepter in der Hand behielten.

Schweiz: Ein überraschender «Powergrab»

Für die Schweiz zeichnet das Team von Demokratieforscherin Sarah Engler ein überraschendes Bild. Die nationale Regierung riss die Macht in einer für etablierte mittel- und nordeuropäische Demokratien einzigartigen Weise an sich.

Der Bundesrat erklärte Mitte März 2020 eine im Schweizer Epidemiengesetz vorgesehene «ausserordentliche Lage»Externer Link und regierte in der Folge mit Notrecht. Er fällte in dieser Phase Entscheide, welche das Parlament erst nachträglich Pro forma bestätigen konnte.

Zudem wurde im letzten Frühjahr die für Mitte Mai angesetzte Volksabstimmung kurzerhand auf den Herbst verschoben, ohne dass die Exekutive dafür über eine klare Kompetenzgrundlage verfügte, wie die Basler Juristin Nadja Binder Braun in einem Gutachten dargelegt hat.

Im Machtkonzentrations-Index der ZDA-Studie wird die Schweiz deshalb in der Nähe von Albanien, Kroatien und Rumänien verortet. Die Schweiz ist insofern ein Sonderfall, da sie die Grundrechte im Vergleich zu diesen und anderen exekutivlastigen Staaten nur wenig einschränkte. Kommt hinzu, dass sich das Notrecht-Regime der ersten Corona-Welle in der nachfolgenden nicht mehr wiederholte.

Volksabstimmungen gegen Notrecht

Trotzdem weckt der interessante Befund der neuen internationalen Corona-Demokratiestudie den Eindruck, dass sich die Schweizer Regierung in Krisenzeiten mit der für eine Demokratie zentralen Gewaltenteilung nicht leicht tut: So hat der Bundesrat bereits früher, im Nachzug zur Finanzkrise 2008/09 eine Volksabstimmung ohne entsprechende rechtliche Grundlage verschoben (IV-Sanierungsvorlage 2009Externer Link).

Über siebzig Jahre zurück liegt zudem der Versuch des Bundesrats, das im Zweiten Weltkrieg geführte VollmachtenregimeExterner Link, auch in Friedenszeiten fortzuführen. Dem setzte erst ein ganz knapper Männer-Volksentscheid über die «Rückkehr zur Direkten Demokratie» am 11. September 1949Externer Link ein Ende: Der Unterschied zwischen dem Ja- und Nein-Lager lag bei gut 8000 Stimmen.

An diese unrühmlichen Umstände in den 1940er-Jahren knüpft in diesen Tagen auch eine Gruppierung an, die sich «Freunde der Verfassung»Externer Link nennt. Sie bringt das im letzten Jahr vom Parlament beschlossene Covid-19-Gesetz mittels ReferendumExterner Link zur Volksabstimmung am 13. JuniExterner Link. Die vom ZDA vorgelegte neue Studie wird zweifellos den anstehenden Abstimmungskampf zusätzlich beleben.

Die vom Aarauer Zentrum für DemokratieExterner Link am 6. April veröffentlichte Studie zeigt, dass die Demokratiequalität eines Landes die getroffenen Massnahmen im Kampf gegen Covid-19 stark beeinflusst.

Die Untersuchung stützt sich auf Daten in 34 europäischen Ländern, basierend auf umfassenden und teils tagesaktuellen Datenreihen.

Die Forschungsstudie basiert auf dem eigenen DemokratiebarometerExterner Link und auf Datenreihen des Göteborger V-Dem-InstitutsExterner Link sowie des Oxford Covid-19 Government Response TrackerExterner Link.

Hier gehts direkt zur Untersuchung: «Democracy in times of the pandemic: Explaining the variation of Covid-19 policies across European democracies, West European Politics»Externer Link

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