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«Den Problemen in die Augen schauen»

Reiterer hofft auf baldige "Nägel mit Köpfen". Ex-press

Michael Reiterer sieht sich als Brückenbauer zwischen Brüssel und Bern – und hat doch geschickt die Interessen der Europäischen Union vertreten. Nun tritt der erste EU-Botschafter in der Schweiz ab.

Mit seiner offenen Art wurde der Österreicher nach seiner Ankunft in Bern 2007 rasch Teil des Schweizer Politgeschehens. Reiterer suchte das Gespräch mit Politikern jeglicher Couleur. Umgänglich im Ton, hart in der Sache, so wird er häufig beschrieben.

swissinfo.ch: Sie haben die EU-Delegation in unmittelbarer Nähe des Bundeshauses aufgebaut, was war sonst Ihre grösste Leistung?

Michael Reiterer: Ich habe mich sehr bemüht, eine Brücke zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zu bauen. Es ging darum, Brüssel zu erklären, was in der Schweiz anders ist, und umgekehrt die Brüsseler Sprache für Schweizer Verhältnisse anzupassen.

Ich habe den Kontakt zur Schweizer Zivilgesellschaft gepflegt, zu Verbänden, Wirtschaftskammern, Universitäten und Schulen. Jährlich habe ich hier zwischen 50 bis 70 Anlässe besucht. Ich fand das spannend, weil ich so einen Eindruck bekam, was die Leute wirklich denken –  und es nicht nur von den Kollegen der Schweizer Bundesverwaltung hörte.

swissinfo.ch: Unterm Strich bleibt aber eigentlich nicht viel. Neue Abkommen wurden in Ihrer Berner Zeit kaum abgeschlossen, die Beziehungen sind festgefahren.

M.R.: Nein, das glaube ich nicht. Einerseits haben sich die Beziehungen in meiner Amtszeit intensiviert, die Präsidenten der drei wichtigsten EU-Institutionen, Rat, Kommission und Parlament waren alle in der Schweiz…

swissinfo.ch: Aber diese Besuche haben keine Annäherung gebracht.

M.R.: Auch mit intensiveren Kontakten werden Interessensunterschiede nicht automatisch aufgehoben, aber es wird eine bessere Basis für Lösungen geschaffen. Es gibt ja neue Verhandlungen zu Agrarfreihandel und Elektrizität, doch es braucht auch auf die institutionellen Probleme eine Antwort. Wie übernimmt die Schweiz die Weiterentwicklung von EU-Binnenmarktrecht? 

Wie wird sichergestellt, dass die Binnenmarktregeln in der Schweiz genauso angewendet werden wie in der Europäischen Union, weil die Schweiz ja an Sektoren des Binnenmarktes teilnehmen will? Wie werden die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes in der Schweiz rezipiert, und wie findet man bei Meinungsverschiedenheiten eine Lösung?

Hier braucht es Antworten, man muss diesen Problemen des Bilateralismus in die Augen schauen. Und jetzt nach den Schweizer Wahlen hoffe ich, dass es gelingen wird, Nägel mit Köpfen zu machen.

swissinfo.ch: Das hofft man auch von Schweizer Seite, unterstreicht aber, Brüssel habe ebenfalls Wünsche, insbesondere im Steuerbereich… Bundesbern setzt daher auf eine pragmatische Gesamtlösung mit Geben und Nehmen.

M.R.: Auch pragmatische Lösungen müssen Lösungen des Problems sein. Wir haben ja Erfahrung mit den mehr als 100 Abkommen, mit denen sich die Schweiz am EU-Binnenmarkt beteiligt. Da gibt es bei der Umsetzung die genannten Probleme. Diese Fragen kamen nun in den einzelnen Verhandlungen über neue Dossiers wieder auf. Daher liegt es in beidseitigem Interesse, dass wir hier eine Lösung finden.

swissinfo.ch: Den Schweizerinnen und Schweizern am wichtigsten ist wohl ein ganz anderes Abkommen: die Personenfreizügigkeit. Die Einwanderung stoppt auch bei abklingendem Wirtschaftswachstum nicht, die Rede ist von einer Einbahnstrasse.

M.R.: Die Personenfreizügigkeit ist eine der Grundsäulen des europäischen Binnenmarktes und wurde mehrfach von den Schweizerinnen und Schweizern direktdemokratisch legitimiert. Ich glaube, die Mehrheit weiss auch, dass die Bürgerinnen und Bürger aus der Europäischen Union einen ganz wesentlichen Beitrag leisten – etwa im Gesundheitswesen, an den Universitäten.

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Das ist keine Einbahnstrasse. Es gibt zum Beispiel mehr Schweizer, die in Frankreich leben, als Franzosen in der Schweiz.

swissinfo.ch: Dennoch wird in der schweizerischen Verwaltung ernsthaft überlegt, die Einwanderung wieder zu beschränken.

M.R.: Die vertraglich vereinbarte «Ventilklausel» sieht für eine Übergangszeit vor, dass die Einwanderung wieder beschränkt werden kann, wenn sie in den Jahren davor über eine gewisse Schwelle gestiegen ist. Diese Übergangsfrist gilt noch für die «neuen» EU-Mitglieder, nicht mehr aber etwa für Deutsche, Spanier, Portugiesen oder Italiener…

swissinfo.ch: …die wegen der Euro-Krise noch eher in die Schweiz kommen werden.

M.R.: Moment, da geht es um ein Schuldenproblem einiger EU-Staaten, das Auswirkungen auf den Euro hat. Aber deswegen kommt es nicht zu vermehrter Einwanderung in die Schweiz. Via Personenfreizügigkeit kann ja nur in die Schweiz kommen, wer hier einen Arbeitsplatz bekommen hat, also von der Wirtschaft gebraucht wird.

Die Lage der Schweiz ist nun mal, wie sie ist. Und die Schweiz ist ja auch von den Auswirkungen der Schuldenkrise betroffen, denken Sie nur an den Kurs des Frankens.

swissinfo: Weshalb ist aus Ihrer Sicht die Schweiz dennoch besser aufgestellt?

M.R.: Die Schweiz ist wirtschaftlich sehr gut aufgestellt, dieses Kompliment mache ich gerne. Sie hat beispielsweise schon länger die Schuldenbremse, die man jetzt in der EU einführen will.

Die Europäische Union besteht aus verschiedensten Mitgliedstaaten. Da ist der grosse Wirtschaftsmotor Deutschland, von dem die Schweiz sehr abhängig ist, dazu gehören aber auch kleinere Länder und Krisenländer.

Das ist eine Herausforderung. Doch ich denke, das verstehen Sie in der Schweiz gut. Es gibt ebenfalls einen grossen wirtschaftlichen Unterschied zwischen dem Kanton Zürich und dem Jura, und dennoch arbeitet man zusammen.

swissinfo.ch: Doch eigentlich können die Politiker der anderen EU-Mitgliedstaaten nur zuschauen, wie «Merkozy» zu zweit Lösungen zimmern…

M.R.: Es ist willkommen und notwendig, dass die beiden grössten Volkswirtschaften der Europäischen Union, Deutschland und Frankreich, einen Beitrag zur Problemlösung leisten. Ohne die Zustimmung der anderen Mitgliedsstaaten und der europäischen Institutionen geht es aber nicht.

swissinfo.ch: Keine Zerreissprobe also zwischen den Mitgliedern der Euro-Zone und den anderen?

M.R.: Es ist sicher eine schwierige Situation. Doch es gibt ja auch sonst in der EU unterschiedliche Gestaltungen, beispielsweise sind nicht alle Mitgliedstaaten beim Schengen-System dabei. Die EU kann mit einer solchen Situation sehr wohl umgehen.

Als persönliche Höhepunkte seiner beinahe fünfjährigen Tätigkeit bezeichnet Reiterer Besuche an den Festivals in Montreux und Verbier – sowie den Gotthard-Durchstich.

Geärgert habe er sich eigentlich nur über die ewig gleichen Vorurteile gegenüber Brüssel, sagt Michael Reiterer.

«Den Schweizern keine Ratschläge geben», diesen Rat gibt er seinem Nachfolger mit.

Ab kommendem Jahr wird der Brite Richard Jones die EU-Vertretung in Bern führen.

2006: Zustimmung an der Urne zum Osthilfegesetz («Kohäsionsmilliarde»).

2009: Zustimmung an der Urne zur Weiterführung der Personenfreizügigkeit und die Ausweitung auf Bulgarien und Rumänien.

2010: Die EU-Staaten verlangen von der Schweiz eine «dynamische Anpassung der bilateralen Abkommen an das künftige EU-Recht» und weitere Kohäsionsbeiträge.

2011: Der Bundesrat greift die Idee von «Bilateralen III» auf, eine Paketlösung mit den Dossiers Elektrizität, Emissionshandel aber auch Steuer- und institutionelle Fragen.

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