«Der chinesische Pragmatismus beeindruckt mich»
Bevor er die Leitung der Verhandlungen in den Steuerstreitigkeiten zwischen der Schweiz und anderen Ländern übernimmt, zieht Jacques de Watteville mit swissinfo.ch Bilanz über sein Jahr als Schweizer Botschafter in Peking. Und er erklärt, wo in seinen Augen Chinas Stärke liegt.
De Watteville wurde Anfang September als neuer Staatssekretär für internationale Finanzfragen berufen. Er wird am 1. November den Posten von seinem Vorgänger Michael Ambühl übernehmen.
Der 62-jährige Diplomat, zuvor Botschafter in Damaskus und danach Chef der Schweizer Mission bei der EU in Brüssel, erklärt, weshalb die zwölf Monate an der Spitze der weltgrössten Schweizer Botschaft ein «tolles Jahr» waren.
swissinfo.ch: Welches war ihr grösstes Dossier in dieser Botschaft?
Jacques de Watteville: Die Verstärkung der bilateralen Beziehungen in den Bereichen Politik und Wirtschaft, die sich im letzten Juli durch die Unterzeichnung des Freihandels-Abkommens konkretisiert haben.
Es ist das erste Freihandels-Abkommen, das China mit einer der zwanzig grössten Volkswirtschaften der Welt und mit einem kontinentaleuropäischen Land abgeschlossen hat. Das Abkommen ist eine Premiere – wegen der Bestimmungen über die Rechtsstaatlichkeit, die es enthält.
Zudem haben nicht weniger als fünf Bundesräte in dieser Periode Peking besucht, darunter auch ein Bundespräsident. Derweil hat der neue chinesische Premierminister Li Keqiang seinen ersten Besuch eines westlichen Landes in Bern absolviert. Es war ein tolles Jahr.
Die Vertretung in Peking für China, Nordkorea und die Mongolei ist mit rund 90 Angestellten die grösste Schweizer Botschaft weltweit.
Werden die Generalkonsulate in Shanghai, Kanton und Hongkong und die Büros der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in Pjöngjang und Ulan Bator dazugezählt, sind rund 210 Mitarbeitende von Peking aus angestellt.
(Quelle: EDA)
swissinfo.ch: Inwiefern ist dieses Abkommen ausserordentlich, was die Rechtsstaatlichkeit und die Bestimmungen zu den Menschenrechten betrifft?
J.d.W.: Es ist das erste Mal, dass China in einem Freihandels-Abkommen die Bestimmungen in der Eingangsformel festgeschrieben hat. Diese gehen sehr weit in Bezug auf internationale Standards, nachhaltige Entwicklung, Rechtsstaatlichkeit und nehmen Bezug auf die Grundsätze der Vereinten Nationen.
Das Abkommen nimmt ebenfalls Bezug auf einen Vertrag (Memorandum of Understanding) über Dialog und Kooperation, den wir 2007 mit China vereinbart haben und der einen bilateralen Dialog über die Frage der Menschenrechte einschliesst. Im Vergleich mit früheren von China abgeschlossenen Verträgen ist dies also ein klarer Fortschritt.
swissinfo.ch: Wird dieses Abkommen für Schweizer Unternehmen zu einem echten Vorteil gegenüber der hauptsächlich europäischen und nordamerikanischen Konkurrenz führen?
J.d.W.: Ganz sicher, es führt nicht nur zu einer beträchtlichen Reduktion der Zölle auf über 95 Prozent des Handels zwischen der Schweiz und China, sondern verbessert auch den rechtlichen Rahmen, in welchem dieser Handel stattfindet.
Nun liegt der Ball beim privaten Sektor, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen, sobald das Abkommen in Kraft ist.
Seit September 2012 ist de Watteville Botschafter der Schweiz in der Volksrepublik China. Ab dem 1. November wird er dem Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) in Bern vorstehen.
Er wurde am 4. Juni 1951 in Lausanne geboren, wo er 1978 auch das Doktorat in Rechtswissenschaft erlangte. Im gleichen Jahr reiste er als Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nach Libanon.
1982 stieg er in den diplomatischen Dienst ein, wo er seine Karriere in der Abteilung für internationale Organisationen begann, bevor er zum Zeitpunkt der Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) die Arbeit in Brüssel aufnahm.
Von 1992 bis 1997 war de Watteville in London verantwortlich für Wirtschafts- und Finanzfragen. Anschliessend übernahm er die Leitung des Bereichs Finanz und Wirtschaft im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Von 2003 bis 2007 war er Schweizer Botschafter in Damaskus. Anschliessend leitete er bis im Juni 2012 die Schweizer Mission bei der EU in Brüssel.
(Quelle: EDA)
swissinfo.ch: Was halten Sie als Jurist vom Rechtsbegriff in China? Haben Sie Vertrauen in die Umsetzung des Rechts in diesem Land?
J.d.W.: Die erste Etappe ist, einen soliden rechtlichen Rahmen zu haben. Die chinesische Verfassung schliesst Prinzipien ein, die weitestgehend internationalen Standards entsprechen, und das gilt auch für viele Gesetze.
Das Hauptproblem heute liegt in der Umsetzung dieses rechtlichen Rahmens. Das Land ist riesig, und es gibt Probleme mit der Umsetzung sowohl auf nationaler wie auch auf regionaler Ebene.
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swissinfo.ch: Man sagt Präsident Xi Jinping nach, er verneine die Existenz «universeller Werte» (ein Verweis auf die Menschenrechte). Er soll sogar deren Lehre an chinesischen Universitäten verboten haben. Welchen Sinn macht der Dialog zwischen Bern und Peking in diesem Kontext?
J.d.W.: Diese unbestätigten Äusserungen wurden von der Presse weitergetragen. Heute stellt niemand oder kaum jemand mehr das Prinzip der Universalität der Menschenrechte in Frage, doch man beobachtet Tendenzen, regionale oder kulturelle Besonderheiten hervorzuheben.
Ob es sich nun um Werte handelt, die als universell, regional oder lokal präsentiert werden, für mich ist die Hauptsache, dass es die gleichen sind. Wenn einige diesen ihren eigenen Stempel aufdrücken wollen, schafft das eine Eigenverantwortlichkeit und weckt noch mehr Verantwortungsgefühl. Allerdings darf dies nicht dazu führen, dass diese relativiert werden.
Was den Menschenrechts-Dialog zwischen der Schweiz und China betrifft, ist dies ein sehr wichtiger Dialog, der 1991 auf Anfrage Chinas aufgenommen wurde. Er geht vertieft auf zahlreiche Fragen ein und zieht diverse Experten bei. Die nächste Sitzung ist für Ende November vorgesehen.
Verschiedene operative Projekte wurden angestossen, so etwa eine Zusammenarbeit im Bereich des Strafvollzugs, die bereits seit zehn Jahren läuft. Wir haben bis heute nicht weniger als fünfzig chinesische Gefängnisse besucht, um die Haftbedingungen zu verbessern. Wir machen dabei echte Fortschritte.
Man erreicht viel bessere Ergebnisse, indem man ein Land überzeugt, vorwärts zu schreiten, als dass man ihm den Mahnfinger zeigt.
Die China-Plattform, ein Zusammenschluss von verschiedenen Nichtregierungs-Organisationen, schrieb nach der Unterzeichnung des Freihandels-Abkommens: «Die Erwähnung der UNO-Charta und der indirekte Bezug auf den Menschenrechtsdialog sind gerade im Fall von China absolut ungenügend. Eine vorgängige Analyse menschenrechtlicher Implikationen eines Handelsabkommens mit China fehlt ebenso wie verbindliche Menschenrechtsklauseln.»
Human Rights Watch bezeichnete den bilateralen Dialog als «weitestgehend wirkungslos». Und die humanitäre Organisation Dui Hua, spezialisiert auf den Menschenrechts-Dialog mit China, erklärte, westliche Regierungen zeigten sich besorgt, «dass die Dialoge wirkungslos sind und als Vorwand benutzt werden, Rechtsthemen von anderen Foren auszuschliessen».
(Quelle : Alliance Sud, 8. Juli 2013)
swissinfo.ch: Was kann die Schweiz bei einem Problem wie jenem Tibets beitragen?
J.d.W.: Ich habe hier sehr rationale und vertiefte Diskussionen auf sehr hohem Niveau über das Problem der Selbstverbrennungen geführt. Auch hier ist Fortschritt durch Dialog möglich, doch es braucht Fingerspitzengefühl, weil die Chinesen in diesen Fragen sehr empfindlich sind.
Wenn sie von der Beobachtung ausgehen, dass China in den letzten 30 Jahren mehrere hundert Millionen Menschen aus der Armut geholt hat – ein einmaliger Erfolg in der Menschheitsgeschichte –, schafft das eine ganz andere Atmosphäre für den Verhandlungsbeginn, als wenn man gleich mit Kritik einsteigt.
swissinfo.ch: Welche Lehre Chinas bringen Sie nach Bern zurück?
J.d.W.: Der chinesische Pragmatismus, die langfristige Vision der Chinesen und ihre kurzfristige Flexibilität haben mich sehr beeindruckt. Man merkt deutlich, dass sie eine Strategie verfolgen, doch sie sind sehr pragmatisch, was die Mittel zum Erreichen ihres Ziels betrifft, und das macht sie äusserst effizient.
Gleichzeitig bewundere ich ihre Tatkraft, ihre Vitalität, ihre Energie. Sie haben sich wirklich der Zukunft zugewandt. Diese positive Energie, diese Begeisterung, dieser Wille, sich vorwärts zu bewegen, sind eine Kraft, die meiner Meinung nach einige Länder in Europa dringend nötig hätten.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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