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«Der Europarat ist zutiefst schweizerisch»

Der Europarat in Strassburg - ein Ort des Dialogs. swissinfo.ch

Der Europarat ist eine moralische Instanz, ein Ort des Dialogs für die 47 Mitgliedstaaten. Völkerrechts-Professor Daniel Thürer bezeichnet die Institution in Strassburg als ein pluralistisches und föderalistisches Gebilde – eine Art Schweiz 'en miniature'.

Daniel Thürer, geboren 1945 in St. Gallen, ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Staatsrecht an der Universität Zürich. Seit knapp 10 Jahren vertritt er die Schweiz in der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz in Strassburg.

Im Gegensatz zur Europäischen Union fällt der Europarat grundsätzlich keine verbindlichen Beschlüsse, sondern gibt lediglich Empfehlungen ab. Die europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz zum Beispiel verabschiedet Empfehlungen zum Schutz der Roma, gegen Antisemitismus, Antiislamismus, gegen Rassismus in den Medien, im Sport oder Cyberspace. All dies seien rechtlich gesehen unverbindliche Erlasse, was aber nicht bedeute, dass sie nicht eine starke politische oder psychologische Wirkung haben könnten, so Thürer.

swissinfo.ch: Die Schweiz ist seit 50 Jahren Mitglied im Europarat. Was wäre, wenn sie nicht beigetreten wäre?

Daniel Thürer: Das wäre nicht gut gewesen. Ich glaube, es war viel zu spät, dass die Schweiz erst 1963 beitrat, 14 Jahre nach der Gründung des Europarats. Wir haben lange nach dem Zweiten Weltkrieg in unserer Mentalität der Abschottung und der Neutralität verharrt, obwohl der Europarat mit militärischen Fragen nichts zu tun hatte. Im Rückblick kann man sagen: Zum Glück ist sie damals doch noch beigetreten.

swissinfo.ch: Was hat diese Zugehörigkeit der Schweiz in den letzten 50 Jahren gebracht?

D.T.: Man darf vielleicht nicht zu utilitaristisch denken: was hat es uns gebracht, das ist der Approach, den wir immer haben. Schon beim UNO-Beitritt hat man gefragt: was bringt es uns?

Ich glaube, Europa ist in einem neuen, politischen, kulturellen Zustand, es ist eine Daseinsform. Und da scheint es mir natürlich, dass man einfach dazugehört – ohne diese Zweckfrage zu stellen.

Der Europarat ist eigentlich zutiefst schweizerisch, könnte man sagen, in dem Sinne, dass etwa der Gedanke des Föderalismus dort viel besser aufgehoben ist als in der Europäischen Union, die sehr stark nach Unifizierung strebt.

Der Europarat ist ein pluralistisches, mehrsprachiges Gebilde, in dem der Rechtsgedanke wie auch im schweizerischen Bundesstaat eine grosse Rolle spielt.

Die Schweizer haben in Strassburg viel zu sagen, nur schon dank der Mehrsprachigkeit. Es gibt wenige Europäer, die ohne weiteres Französisch oder Englisch oder Italienisch verstehen und sprechen können.

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swissinfo.ch: Dann hat die Schweiz also Vorbildcharakter?

D.T.: Das könnte etwas arrogant verstanden werden. Man könnte vielleicht sagen, sie ist eine Art Modell. Es gab immer wieder Leute nach dem Zweiten Weltkrieg – ich denke da etwa an den Neuenburger Schriftsteller Denis de Rougemont – die gesagt haben, il faut helvétiser l’Europe!

Ich meine das absolut nicht in einem moralischen Sinne. Aber die Art und Weise, wie die Schweiz historisch und soziologisch zusammengewachsen ist, findet eine Wiederholung im Rahmen Europas.

2013 feiert die Schweiz 50 Jahre Mitgliedschaft im Europarat. Sie war dieser Organisation am 6. Mai 1963 als 17. Mitglied beigetreten.

Heute zählt der Europarat mit Sitz in Strassburg 47 Mitgliedstaaten mit einer Bevölkerung von insgesamt über 800 Millionen Menschen.

Die Schweiz ist in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit 6 Parlamentariern und ihren Stellvertretern präsent, beim Kongress der Gemeinden und Regionen mit 6 Gemeinde- und Städtevertretern sowie 6 Kantonsvertretern. Zudem stellt sie wie jedes Mitgliedland einen Richter am Menschenrechts-Gerichtshof.

swissinfo.ch: Die Schweiz ist stolz auf ihre Demokratie, trotzdem hat sie von Strassburg auch schon Rügen einstecken müssen. Ist sie also doch kein Musterbeispiel?

D.T.: Die Schweiz hat verschiedene Anpassungen durchführen müssen, die grössten im Hinblick auf den Beitritt zur Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK), der sie relativ spät beigetreten ist. Sie wollte dies erst tun, wenn grobe Verstösse gegen die EMRK aus eigenen Stücken beseitigt worden sind.

Dabei ging es vor allem um das Frauenstimmrecht, das noch nicht in allen Kantonen eingeführt war, oder um die konfessionellen Ausnahmeartikel wie das Jesuitenverbot. Auch der Artikel gegen den Bau von Minaretten und die Ausschaffungs-Initiative wurden vom Europarat stark kritisiert.

swissinf.ch: Hat die Schweiz im Europarat mehr Gewicht, als ihr als kleines Land zustehen würde?

D.T.: Es entspricht der schweizerischen Mentalität, dass wir immer sagen: ‹Wir sind ein Kleinstaat und haben keine Bedeutung.› Wenn man den Blick auf Europa wirft, sieht man aber, dass die Schweiz kein Kleinstaat ist. Sie ist bevölkerungsmässig ein mittelgrosser und ein sehr wichtiger Staat, wenn man das wirtschaftlich Gewicht betrachtet.

Die Schweiz wird sicher wahrgenommen. Im Übrigen ist es schwierig zu messen, wie gross der Einfluss der Schweiz ist, es kommt auf die Organe und auf die einzelnen Persönlichkeiten an, die dort wirken. Der Kommission gegen Rassismus und Intoleranz gehöre ich als unabhängiges Mitglied an und vertrete nicht die Schweiz, ich empfange auch keine Weisungen aus Bern.

Bei meinen zahlreichen Reisen für den Europarat stelle ich immer wieder fest, dass die Schweiz gut ankommt. Wir geniessen grosse Glaubwürdigkeit. Vielleicht wegen der sachlichen Art, die viele Schweizer mit sich bringen, einer gewissen Offenheit, aber auch Zurückhaltung. Es entspricht unserer politischen Tradition, dass wir zuerst einmal hinhören und nicht mit einer Mission in ein Land reisen. Das ist sicher ein Plus und hat vielleicht mit der schweizerischen Demokratie etwas zu tun.

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swissinfo.ch: Die Schweiz gehört nicht zur EU. Hat die Mitgliedschaft im Europarat für die Schweiz deshalb eine besonders grosse Bedeutung?

D.T.: Das glaube ich schon. Und es macht nicht den Anschein, dass die Schweiz in nächster Zeit der EU beitreten wird, obwohl sie als Land, als Gesellschaft in Europa zutiefst integriert ist. Gerade deswegen ist die Zugehörigkeit der Schweiz zu anderen europäischen Organisation wie dem Europarat oder der OSZE besonders wichtig.

Die Schweiz kann auch einiges zur europäischen Integration beitragen. Ich glaube, Europa muss sich in den bevorstehenden Jahrzehnten strukturell und ideell massiv ändern. Ein Gedanke, den wir immer wieder betonen müssen, ist die Bedeutung des Bürgers und der politischen Rechte. Wir müssen wieder zu einem Europa zurückfinden, in dem die Staaten als politische Gebilde und die Bürger der Staaten eine wichtige Rolle spielen.

Wie in der Schweiz, wo die Bürger auch bei Sachentscheiden mitwirken können, eine Tradition, die sonst nirgends in Europa oder auf der Welt in dieser Form vorhanden ist. Nach meinem Verständnis der Grundrechte gehören auch die politischen Rechte, die aktiven Bürgerrechte, zu den Menschenrechten.

Die ECRI wurde 1993 in Wien eingesetzt und nahm 1994 ihre Arbeit auf. Ihre Aufgabe ist es, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz zu bekämpfen. Sie nimmt eine Menschenrechts-Beobachtungsfunktion ein und formuliert Empfehlungen zuhanden der Mitgliedstaaten.

Jeder Europaratsstaat entsendet ein Mitglied in die ECRI. Die Schweiz wird seit 2004 durch Daniel Thürer vertreten, Professor für Völkerrecht, Europarecht und Staatsrecht an der Universität Zürich. Thürer ist u.a. für das IKRK sowie den internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag tätig.

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