Der lange Schatten von Mussolinis Schweizer Ehrendoktor-Titel
Die Universität Lausanne verlieh im Januar 1937 Benito Mussolini die Ehrendoktorwürde. Die akademische Auszeichnung stiess schon damals auf heftige Kritik. Und sie sorgt nach wie vor für Diskussionen. Von einer Aberkennung der Ehre hält die Uni bis heute nichts.
Am späten Nachmittag eines Samstags im November 1936 – genauer gesagt, am 21. November 1936 um 18 Uhr – trat der Rat der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften (SSP) der Universität Lausanne zusammen. Es galt, eine wichtige Angelegenheit zu besprechen.
Die Universität in der Waadtländer Hauptstadt bereitete sich auf die Festivitäten zu ihrem 400-Jahr-Jubiläum vor. Unter anderem plante die Universität, mehrere Ehrendoktorwürden zu verleihen.
In diesem Rahmen war die Idee entstanden, den italienischen Regierungschef Benito Mussolini zu ehren. Dieser war viele Jahre zuvor – wenn auch nur für ein Semester – an der Universität Lausanne eingeschrieben und hatte Kurse des Soziologen Vilfredo ParetoExterner Link und von dessen Schüler Pasquale BoninsegniExterner Link besucht.
Boninsegni stammte aus Rimini, lebte aber seit 1901 in der Schweiz im Exil. Er war zunächst Sozialist, wechselte dann zu nationalistischen Positionen und schloss sich 1922 dem Faschismus an. 1928 übernahm Boninsegni die Leitung der sozial- und politikwissenschaftlichen Fakultät. Er stand in regelmässigem Kontakt mit dem Mussolini-Regime, das ihn mehrfach auszeichnete.
Die Idee, Mussolini einen Doktortitel zu verleihen, stammt wahrscheinlich von ihm. Bei der Sitzung am 21. November 1936 war Boninsegni jedoch nicht anwesend. Das Treffen wurde von dem Philosophen und stellvertretenden SSP-Fakultätsdirektor Arnold ReymondExterner Link geleitet.
Einzelheiten der Diskussion sind nicht bekannt. Doch es ist sicher, dass sich die Anwesenden darauf einigten, den Universitätsgremien vorzuschlagen, Mussolini den Ehrendoktortitel zu verleihen.
Die Begründung lautete wie folgt: «Weil er eine neue Sozialordnung verwirklicht hat, welche die soziologische Wissenschaft bereichert und in der Geschichte eine tiefe Spur hinterlassen wird.» Nur ein Mitglied des Gremiums stimmte gegen den Vorschlag. Es war Jean WintschExterner Link, Professor für angewandte Psychologie, ein Sympathisant des Anarchismus.
Ein enges Verhältnis zur Schweiz
Doch wie kam es überhaupt dazu, dass Mussolini als Kandidat für eine Ehrendoktorwürde in Erwägung gezogen wurde? Und warum sprach sich fast niemand gegen die Verleihung des Titels aus? Um dies zu verstehen, ist ein Blick in die Vorgeschichte nötig.
Die Beziehungen Mussolinis zur Schweiz reichen zurück an den Anfang des 20. Jahrhunderts. Der damals junge und arbeitslose Volkschullehrer kam im Juli 1902 auf der Suche nach einem Job erstmals in die Schweiz. Er schlug sich als Arbeiter und Laufbursche durch und verkehrte in sozialistischen Kreisen. Dort begann er, sich als Redner und Journalist einen Namen zu machen.
Bald geriet Mussolini auch in den Fokus der Schweizer Polizei. In Lausanne wurde er wegen Landstreicherei verhaftet, im Kanton Bern ausgewiesen, weil er die italienischen Arbeiter zum Streik angestiftet hatte. Die Bundespolizei warf ein Auge auf ihn, da sie ihn für einen gefährlichen Agitator hielt.
Im Jahr 1904 immatrikulierte er sich an der Universität Lausanne. Im November desselben Jahres kehrte er nach Italien zurück, dank einer Amnestie, die ihm eine Verurteilung als Wehrdienstverweigerer ersparte. Zwischen 1908 und 1910 hielt er sich erneut wiederholt in der Schweiz auf.
Eine besondere Beziehung
Die in der Eidgenossenschaft verbrachte Zeit war wichtig für die politische Bildung des künftigen faschistischen Führers. Mussolini vergass diese Erfahrungen nie und pflegte eine besondere Beziehung zum Kanton Waadt und dessen Hauptstadt Lausanne.
So schenkte er 1927 dem Lausanner Kunstmuseum drei Gemälde italienischer Künstler. In den Jahren 1930 und 1932 stimmte er zu, dem Kanton Waadt einige Steinböcke aus dem Nationalpark Gran Paradiso zur Wiederansiedlung zu schenken. Im Jahr 1935 schenkte er der Waadtländer Kantonsbibliothek ein Faksimile eines Bandes mit Schriften des lateinischen Dichters HorazExterner Link.
Als Vermittler für diese Höflichkeitsgesten trat fast immer sein ehemaliger Professor auf, Pasquale Boninsegni. Dieser war ein glühender Verfechter des Faschismus in der italienischen Diaspora von Lausanne.
Eine Indiskretion mit Folgen
Im Juni 1936 beschloss der Senat der Universität Lausanne, einen Appell an Banken, Unternehmen und Ehemalige zu lancieren, um Mittel für die 400-Jahr-Feier des darauffolgenden Jahres zu beschaffen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Gremium auch an den Chef der italienischen Regierung dachte.
Das Kuriose (und Bedauerliche) ist, dass die Nachricht als Indiskretion bald nach Rom durchsickerte und den Vorsitzenden des Festkomitees – den bereits erwähnten Arnold Reymond – dazu veranlasste, Mussolini ein offizielles Gesuch um Unterstützung zu unterbreiten. Der Duce erwies sich als grosszügig und sandte umgehend einen Scheck über 1000 Schweizer Franken.
Diese finanzielle Geste war zweifelfrei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Verleihung des Ehrendoktortitels. Besonders auffällig war jedoch der direkte Kanal vertraulicher Informationen, der von Lausanne ins Sekretariat Mussolinis führte und den Handlungsspielraum der beteiligten Personen in der Schweiz wiederholt einschränkte.
Direkter Draht zwischen Lausanne und Rom
Es kam vermehrt zu Indiskretionen. Ende Oktober 1936 erörterte die Waadtländer Kantonsregierung, wahrscheinlich dank Informationen von Reymond, die Möglichkeit eines Ehrendoktortitels für Mussolini.
Die Universität ist autonom und kann einen solchen Entscheid selbständig durchführen, doch offensichtlich war man sich der politischen Tragweite einer solchen Verleihung bewusst. Daher wollte die Universität zuerst den Puls der Regierung fühlen.
Bei einem ersten Treffen sprach sich die Exekutive gegen die Verleihung des Titels aus. Einige Tage später erfuhr sie jedoch, dass Mussolini bereits über die Absichten der Universität informiert war. Die Waadtländer Regierung änderte daraufhin ihre Meinung.
Es gibt kein Protokoll der Diskussion, aber es ist anzunehmen, dass die Kantonsregierung die möglichen negativen Reaktionen in der Öffentlichkeit für weniger gravierend hielt als die diplomatischen Auswirkungen eines Rückziehers gegenüber dem italienischen Regierungschef. Ein allfälliger Rückzug des Vorschlags hätte als unhöfliche Geste ausgelegt werden können.
Da die Waadtländer Regierung schliesslich keine Vorbehalte vorbrachte, war der Weg für den Entscheid des Fakultätsrats im November 1936 geebnet. Das letzte Wort hatte jedoch die Universitätskommission, die aus dem Rektor, dem Kanzler und den Dekanen der Fakultäten bestand.
Mehr
Wie Mussolini die Schweiz irritierte
Einstimmig bei einer Enthaltung
Erneut kam es zu Indiskretionen. Boninsegni informierte Mussolini wiederholt über den Stand der eigentlich vertraulichen Gespräche. Dies legt den Schluss nahe, dass auch die ersten Informationen auf ihn oder eine ihm nahestehende Person zurückgehen.
Die Universitätskommission stand unter Druck. Der Dekan der Philosophischen Fakultät, Georges BonnardExterner Link, war skeptisch gegenüber der Ehrung von Mussolini und sprach von einem «Zwang».
Die Kommission vertagte ihren Entscheid, stimmte aber schliesslich am 13. Januar 1937 dem Vorschlag des Fakultätsrats zu. Einzig Bonnard enthielt sich der Stimme, da er die politischen Auswirkungen des Entscheids fürchtete.
Die Fakten gaben ihm Recht. Etwa zehn Tage nach dem Entscheid fischte der Lehrling einer Lausanner Druckerei einen Entwurf der Ehrendoktor-Urkunde Mussolinis aus einem Papierkorb.
Das Dokument gelangte in die Hände von Paul GolayExterner Link, Redaktor bei «Droit du Peuple», dem Organ der sozialistischen Partei. Am 2. März, am Vorabend der Wahlen zum Kantonsparlament, veröffentlichte die Arbeiterzeitung die Nachricht.
«Eine Schande für mein Land»
Für die Universität war das ein schwerer Schlag. Der Entscheid wurde von anderen Zeitungen aufgegriffen, Protestbriefe gingen im Rektorat der Universität ein. Der Entscheid, «einen Mann […] zu ehren, dessen Politik den natürlichsten Rechten der Menschheit widerspricht, ist eine Schande für mein Land», schrieb ein anonymer Autor.
Viele machten ihrem Unmut Luft, darunter auch mehrere Forschende. Als Grund für die ablehnende Haltung wurde besonders häufig die italienische Annexion Äthiopiens am Ende eines Eroberungskriegs genannt, der unter offener Missachtung des Völkerbunds und unter massivem Einsatz von Chemiewaffen geführt worden war.
Das grosse Echo auf die Causa Mussolini veranlasste die Bundesbehörden dazu, klarzustellen, dass die Universität völlig unabhängig gehandelt hatte. Mittlerweile wurden vor allem in Rom die kritischen Töne der Schweizer Presse (auch wenn es in Wirklichkeit vor allem die linke Presse war) aufmerksam verfolgt.
Ende März 1937 kommunizierteExterner Link der Staatssekretär im italienischen Aussenministerium, Giuseppe Bastianini, dem Schweizer Botschafter in Italien, Paul Ruegger, dass Mussolini die Geste der Universität Lausanne schätze. Doch «angesichts der Diskussionen», die dieser Ehrendoktor ausgelöst habe, ziehe er es vor, auf die Auszeichnung zu verzichten.
Die Ablehnung Mussolinis schien zunächst definitiv zu sein. In den darauffolgenden Tagen jedoch kam der Duce auf seinen Entscheid zurück. Dies könnte aufgrund von Rueggers Reaktion, einer Vermittlung von Boninsegni, der sich in Rom aufhielt, oder aufgrund von Diskussionen innerhalb der italienischen Regierung geschehen sein.
Auf alle Fälle: Am 8. April konnte eine Delegation der Universität Lausanne schliesslich in Rom Mussolini höchstpersönlich die Urkunde mit dem Ehrendoktortitel verleihen, nachdem er sie zuvor über eine Stunde im Vorzimmer hatte warten lassen. Alle anderen Persönlichkeiten, die mit dem gleichen Titel ausgezeichnet wurden, mussten nach Lausanne reisen, um die Urkunde entgegenzunehmen.
Eine Leiche im Keller
In der Nachkriegszeit geriet die ganze Affäre mehrmals in die Schlagzeilen, besonders anlässlich der 450-Jahr-Feier der Universität Lausanne im Jahr 1987 und nach Recherchen des Journalisten und Historikers Claude Cantini.
Cantini trug entscheidend dazu bei, dass der Fall Mussolini wieder Gegenstand einer öffentlichen Debatte wurde. Er interpretierte ihn als Beispiel für die Sympathie, die der italienische Faschismus in weiten Teilen der Schweizer Führungsschicht in den damaligen Zeiten genoss.
Linke Kreise lancierten in der Waadt eine Petition, in der die Universität aufgefordert wurde, Mussolini im Nachhinein den Doktortitel abzuerkennen. Die Universität Lausanne erklärte, mit dem Entscheid von vor 50 Jahren nicht einverstanden zu sein, weigerte sich aber, den Titel zu entziehen.
Der Grund: Es gebe keine Rechtsgrundlage, und die Geschichte könne nicht einfach umgeschrieben werden. Die Uni beschloss jedoch, die gesamte Dokumentation zu dieser Angelegenheit zu veröffentlichen.
Sie publizierte aus diesem Grund in einem «Weissbuch» alle in Archiven auffindbaren Dokumente zu Mussolinis Ehrendoktortitel. Auch aus diesem Grund sorgte die Affäre immer wieder für Diskussionen.
Kürzlich wurde das Thema anlässlich einer Ausstellung über die italienische Einwanderung im Historischen Museum von Lausanne erneut aufgegriffenExterner Link. In dieser Ausstellung war unter anderem ein Faksimile der Urkunde des Ehrendoktors von Benito Mussolini zu sehen. Vertreter:innen der italienischen Emigrierten in die Schweiz forderten erneut, den Ehrendoktortitel postum abzuerkennen.
Vorerst bleibt dem ehemaligen Führer des italienischen Faschismus jedoch der Doktortitel erhalten. Wie die Sprecherin der Universität Lausanne, Geraldine Falbriard, auf Anfrage bestätigte, beabsichtigt die Uni «vorläufig» nicht, ihren Standpunkt zu ändern.
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch