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Der Rechtsstaat als Schicksalsfrage der direkten Demokratie

Fraunefaust auf Plakat vor Supreme court
Rod Lamkey / DPA

In Amerika sind nach Wahlen die Gerichte am Zug, in Deutschland davor – und in der Schweiz (noch) fast nie. Hinter dem unterschiedlichen Zusammenwirken von Demokratie und Rechtsstaat verbirgt sich ein ständiger Machtkampf.

Mit einer Armee von Rechtsanwälten wollte der abgewählte Präsident der Vereinigten Staaten die in den über 3000 Wahldistrikten und Bundesstaaten ermittelten Resultate verklagen. Schon in der Wahlnacht auf den 4. November hatte Donald Trump verlangt, dass «jede legale Stimme gezählt werden muss».

USA: Demokratiefreundliche Bundesrichter

«Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden», sagt Paul Jacob, der Vorsitzende der konservativen US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation «Citizens in ChargeExterner Link» (dt. verantwortliche Bürger). «In den USA kommen die Gerichte in erster Linie nach einem demokratischen Entscheid zum Zug», betont Jacob, dessen Organisation wiederholt auch an amerikanische Bundesgerichte gelangt ist. «Wir haben festgestellt, dass Bundesrichter unsere Wahl- und Stimmrechte eher schützen als lokale Gerichte», betont Jacobs.

Er erklärt sich dies unter anderem mit dem Umstand, dass Richter in den Teilstaaten im Unterschied zu Bundesrichtern regelmässig wiedergewählt werden müssen: «Das schafft politische Abhängigkeiten und ein Ungleichgewicht zwischen Demokratie und Rechtsstaat.»

«Trump rechnete damit, dass die Gerichte mit dieser Wahl umgehen werden, wie er es in seinen Tweets tut», sagt der Wahlexperte Justin Lewitt von der ´Loyola Law School´ in Los Angeles und fügt hinzu: «Doch von den Frauen und Männern in Richterkleidern bekommt er die Antwort: ‹Sorry, wir halten uns an die Gesetze'». Auf diesem Weg passiert es aber immer wieder, dass Volksentscheide in Sachabstimmungen von einem Gericht nachträglich für ungültig erklärt wird – in den USA verfügen die Bürgerinnen und Bürgern in den meisten Teilstaaten über direktdemokratische VolksrechteExterner Link, nicht jedoch auf der föderalen Ebene.

«In Kalifornien wird fast ein Drittel der Volksentscheide nachträglich von einem Gericht gekippt», stellt die Politikwissenschafterin Anna Christmann in «Direct Democracy and the Rule of Law»* fest. Sie promovierte an der Universität Zürich zum Thema und gehört seit 2017 dem deutschen Bundestag als Sprecherin für Bürgerschaftliches Engagement der Grünen an.

Deutschland: Historische Erfahrung prägen Rechtspraxis

Auch in Deutschland sorgt das Spannungsfeld zwischen Volkswillen und Rechtsstaat immer wieder für Gesprächsstoff – doch unter ganz anderen Vorzeichen als in den USA: «Hier in Deutschland werden die Gerichte grundsätzlich vor einer demokratischen Entscheidung aktiv», hält Theo Schiller fest, emiritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Marburg.

«Das hängt nicht zuletzt mit unseren geschichtlichen Erfahrungen zwischen den beiden Weltkriegen zusammen», betont Schiller, der dazu in einem neuen Buch** eine spannende Auslegeordnung macht: «Die Gerichte spielen in Deutschland in Bezug auf die Wahrung der Volksrechte eine ambivalente Rolle.»

Das führt dazu, dass viele Volksinitiativen in Kommunen und Bundesländern – wie in den USA gibt es auch in Deutschland noch keine direktdemokratischen VolksrechteExterner Link auf der föderalen Ebene – schon vor Beginn einer Unterschriftensammlung richterlich gestoppt werden: «Vorstösse, die finanzielle Fragen ansprechen oder die Volksrechte selbst ausbauen möchten haben es besonders schwer», hält Schiller fest.

Es weist aber darauf hin, dass in anderen Sachbereichen – etwa Infrastruktur- oder Bildungsthemen – die Gerichte durchaus bereit sind, (direkt)demokratische Meinungsbildungsprozesse zu ermöglichen. So sind laut einer neuen StudieExterner Link des Vereins ´Mehr Demokratie´ seit dem Zweiten Weltkrieg fast 500 direktdemokratische Verfahren auf der Ebene der Bundesländer zugelassen worden.

Mann unterzeichnet Initiative
Das bayerische Volksbegehren für einen „Mietenstopp“ haben etwa 52.000 Bürgerinnen und Bürger unterschrieben. Im Juli 2020 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Gesetzesinitiative untersagt. Stephan Rumpf / Süddeutsche Zeitung

Gegenüber der nachträglichen Einschaltung des Rechtsstaates in den USA sieht Theo Schiller in der deutschen Praxis der vorgängigen richterlichen Prüfung einen grossen Vorteil: «Wenn bei uns Unterschriften gesammelt und Stimmen abgegeben werden, steht schon fest, dass diese auch eine verbindliche Wirkung haben werden und nicht noch nachträglich für ungültig erklärt werden.»

Schweiz: Volk als Verfassungsgeber

Trotz dieser sehr unterschiedlichen Rolle des Rechtsstaates in der Demokratie, ähneln sich Deutschland und die USA darin, dass die Bürgerinnen und Bürger auf der föderalen Ebene nicht als Verfassungsgeber wirken können. Dies ganz im Unterschied zur Schweiz: «Hier müssen sämtliche Verfassungsänderungen von Volk und Ständen gutgeheissen werden, ein Verfassungsgericht kennen wir jedoch nicht», betont die an der Universität Basel wirkende Juristin Nadja Binder Braun.

Tatsächlich ist in der Geschichte der modernen Schweiz nur gerade ein einziger Volksentscheid nachträglich durch das Bundesgericht für ungültig erklärtExterner Link worden. Hinzu kommen einige wenige vorgängige Ungültigkeitserklärungen von Volksinitiativen auf kantonaler (Gerichte) und nationaler (durch das Parlament in vier Fällen).

Im Frühjahr 2019 gab das höchste Gericht der Schweiz in Lausanne der Beschwerde einer Initiativgruppe recht und erklärte die Volksabstimmung zur Vorlage über die «Heiratsstrafe» für ungültig. Der Grund: Die Regierung, der Bundesrat, hatte laut dem Gericht in seinen Erläuterungen an die Stimmberechtigten, dem sogenannten Abstimmungsbüchlein, falsch informiert.

Passanten vor Abstimmungsplakat
Das Schweizer Bundesgericht hat entschieden: Die Abstimmung über die Heiratsstrafe ist ungültig. Eine Wiederholung der Abstimmung liegt im Ermessen des Bundesrates. Peter Schneider / Keystone

Eine weit grössere rechtsstaatliche Herausforderung für die Schweizer Demokratie allerdings bilden Konflikte mit übergeordneten Menschenrechten, wie sie in der von der Schweiz ratifizierten Europäischen MenschenrechtskonventionExterner Link festgeschrieben worden sind: «Immer wieder sagt Strassburg der Schweiz, wie Gleichberechtigung geht», schreibt Sibilla Bondolfi in einem kürzlich bei SWI swissinfo.ch erschienen Artikel.

Gemeinsam: Spannungsfeld der Machtzentren

Während die Schweiz in den USA und Deutschland Inspiration für eine Einführung von direktdemokratischen Volksrechten auf der Bundesebene ist, sind auch in der Schweiz zunehmend juristische Einflüsse nach amerikanischem und deutschen Muster spürbar. 

Dazu gehört die nachträgliche Ungültigkeitserklärung einer Volksabstimmung und die wachsende Rolle des Europäischen Menschengerichtshofes, aber auch Vorschläge für eine aktivere Vorprüfung von Volksinitiativen auf Völkerrechtskonformität: «Eine solche Vorprüfung wäre für die Demokratie in der Schweiz ein Gewinn», ist Theo Schiller überzeugt, denn «dann kämen nur Initiativen zur Abstimmung, die auch umgesetzt werden können».

So unterschiedlich sich die Praxis in Rechtsstaaten wie den USA, Deutschland und der Schweiz auch präsentieren, so ähnlich sind letztlich die konkreten Spannungsfelder zwischen den verschiedenen Machtzentren. 

*Direct Democracy and the Rule of Law: Direct Democracy and Minorities, Wiesbaden (Springer VS) 2012

**Aufbruch zur Demokratie: Die Weimarer Reichsverfassung als Bauplan für eine demokratische Republik, Baden-Baden (Nomos) 2021

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