Der Ständerat, die Kammer der überraschenden Allianzen
Die vom Westschweizer Radio und Fernsehen RTS gesammelten Daten lüften den Schleier über dem Ständerat. Wie die Abgeordneten der Kantone abstimmen, aber auch, welche Parteiallianzen sich in der kleinen Kammer durchsetzen können.
Ein Ständerat oder eine Ständerätin stimmt mit «Ja», der Kollege oder die Kollegin aus dem gleichen Kanton mit «Nein». Die beiden Stimmen heben sich gegenseitig auf, und ihr Kanton fällt bei dem Entscheid nicht ins Gewicht.
Gemäss der Untersuchung der RTS-Datenredaktion kommt dieses Szenario bei den Ständerätinnen und Ständeräten aus dem Tessin, Bern und Neuenburg sehr häufig vor. Diese Kantone haben alle zwei Abgeordnete im Ständerat.
Diese Gegensätze mögen erstaunen. Der Ständerat ist die «Kammer der Kantone». Die 46 Ständerätinnen und Ständeräte vertreten dort vor allem die Interessen ihrer Region. Theoretisch folgen diese Abgeordneten weniger der Linie ihrer Partei als jene im Nationalrat.
Doch was genau dort geschieht, ist nicht leicht zu durchschauen. Bis vor kurzem stimmten die Abgeordneten noch per Handerheben ab. Nach mehreren Zählfehlern wurde 2014 schliesslich die elektronische Abstimmung eingeführt. Unter Beibehaltung eines Teils der geheimen Abstimmungen und ohne die Daten zugänglich zu machen.
Dennoch konnte RTS die 1363 namentlichen Abstimmungen der laufenden Legislaturperiode rekonstruieren (siehe Kasten am Ende des Artikels). Diese machen 60% der Entscheide aus und ermöglichen es, die Allianzen zwischen den Parteien zu analysieren. Und wie bereits erwähnt, sind Gegensätze zwischen den gewählten Abgeordneten desselben Kantons an der Tagesordnung.
Das Thema der Sendung Forum von RTS (auf Französisch):
Die Grüne Céline Vara und der Freisinnige Philippe Bauer aus dem Kanton Neuenburg stimmten in mehr als der Hälfte der umstrittenen Abstimmungen gegenteilig. Ihre Stimmen hoben sich somit auf. Nur in 38% der Fälle stimmten sie einheitlich ab.
Die grösste Geschlossenheit findet sich hingegen bei den beiden Abgeordneten des Kantons Genf. Die Grüne Lisa Mazzone und der Sozialdemokrat Carlo Sommaruga standen sich nur in 4% der Abstimmungen gegenüber. Dies ist der tiefste Wert der ganzen Schweiz, wie die folgende Grafik zeigt.
«Unterschiedliche Sensibilitäten»
Natürlich ist es einfacher, sich unter Abgeordneten der gleichen politischen Richtung zu einigen. Allerdings geht es manchmal auch über die Blöcke hinaus.
In der gleichen Konstellation wie Neuenburg (Grüne/FDP) schickt der Kanton Waadt zwei Abgeordnete in den Ständerat. Da scheinen sich die Grüne Adèle Thorens und der Freisinnige Olivier Français eher einig zu sein als die beiden aus dem Nachbarkanton. In 46% der Abstimmungen waren sie gleicher Meinung.
«Mit Philippe Bauer haben wir unterschiedliche Sensibilitäten, das muss man respektieren. Ich habe den Eindruck, dass die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger gut vertreten ist», sagt Vara dazu.
Die Neuenburgerin versichert, dass sie sich über Parteigrenzen hinweg für ihren Kanton einsetze: «Das haben wir schon öfter gemacht. Auch bei Themen, die nicht spezifisch den Kanton betreffen, wie die Neudefinition der Vergewaltigung. Wir müssen das tun, im Interesse des Kantons, das ist entscheidend.»
Die Daten sind jedoch eindeutig: Die Ständerätinnen und Ständeräte stimmen viel häufiger mit ihren Parteimitgliedern als mit der oder dem anderen Abgeordneten ihres Kantons. Wie im Nationalrat stimmen sie in neun von zehn Fällen auf Parteilinie ab.
Besonders ausgeprägt ist diese Geschlossenheit bei linken Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu beobachten, bei denen Abgeordnete der Grünen und der Sozialdemokratischen Partei (SP) fast immer als geschlossener Block auftreten. Im Durchschnitt folgen mehr als 95% ihrer Mitglieder der Mehrheitsmeinung ihrer Fraktionen.
Bürgerliche Allianz dominiert
Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Allianzen zwischen den Fraktionen bei vielen Abstimmungen als entscheidend. Drei Koalitionen machen häufig das Rennen.
Da ist zunächst die Allianz der bürgerlichen Parteien: Die Mitte, die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) und die Schweizerische Volkspartei (SVP). Dann folgen die Absprache aller Fraktionen ohne SVP und schliesslich die Verbindung von Mitte und Links.
Die Mitte als Zünglein an der Waage
In diesem Spiel gewinnt die Mitte-Fraktion im Ständerat sehr oft. Von den 683 umkämpften Abstimmungen hat die Mehrheit der Fraktion in mehr als 9 von 10 Fällen gewonnen. Die Fraktion liegt damit vor der FDP (83%). Mit 14 bzw. 12 Mandaten sind sie auch die beiden stärksten Parteien im Ständerat.
Die SP, die Grünen und die SVP waren weniger erfolgreich, wie die folgende Grafik zeigt.
Unter den Ständerätinnen und Ständeräten heisst die Spitzenreiterin Brigitte Häberli-Koller. Die Thurgauer Mitte-Politikerin, die seit kurzer Zeit das Präsidium der Kammer innehat, entschied sich in 94 Prozent der Fälle für die richtige Seite.
Die Freiburger FDP-Politikerin Johanna Gapany, die erste Westschweizerin auf dieser Liste, kam auf den neunten Platz. Die am wenigsten erfolgreichen Abgeordneten finden sich bei der SVP.
Im Gegensatz zum Nationalrat stellen die Parlamentsdienste für den Ständerat keine Abstimmungsdatenbank zur Verfügung. Die Ergebnisse gewisser Abstimmungen (Schlussabstimmungen, Anträge mehrerer Abgeordneter usw.) werden auf der Website des Parlaments nur namentlich im Amtlichen Bulletin veröffentlicht.
Die Datenredaktion von RTS hat diese Abstimmungen, die als PDF-Dateien veröffentlicht werden, in Form von analysierbaren Daten zusammengestellt, um ein Bild der laufenden Legislaturperiode zu erhalten.
Gemäss den Parlamentsdiensten stellen die 1363 abgerufenen Abstimmungen (Sommersession nicht berücksichtigt) rund 60% der Entscheide des Ständerats dar. Der andere Teil der Abstimmungen bleibt theoretisch geheim, aber es ist möglich, das Ergebnis dieser Abstimmungen zu erfahren, indem man sich die Videoaufzeichnungen der Debatten der kleinen Parlamentskammer ansieht.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
Dieser Artikel wurde erstmals am 13. Juni 2023 auf RTS veröffentlicht
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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