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Der Ukraine-Krieg verschärft die Probleme der Krisenhilfe weltweit

Flüchtlinge in Äthiopien die aus dem Konflikt im Norden des Landes fliehen
Der Krieg in der Ukraine hat Millionen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen hervorgebracht, aber Konflikte und der Klimawandel führen auch anderswo zu Zwangsvertreibungen, so auch in Äthiopien. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved.

Die UNO schätzt, dass sie für humanitäre Hilfe im Jahr 2023 rekordverdächtige 51,5 Milliarden US-Dollar benötigen wird. Die Kluft zwischen Bedarf und Mitteln wird sich also dramatisch vergrössern. Der russische Angriff auf die Ukraine ist dafür nur einer der Gründe.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht kommen die Vereinten Nationen zum Schluss, dass sie im Jahr 2023 Jahr 51,5 Milliarden Dollar benötigen, um den Bedarf an humanitärer Hilfe zu decken. Das sind 10,5 Milliarden mehr als im laufenden Jahr, in dem die UN-Organisationen bereits Schwierigkeiten haben, genügend Finanzmittel zu finden.

Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR listete in einem bereits im September veröffentlichten «UnterfinanzierungsberichtExterner Link» 12 Länder auf, in denen nicht einmal 50% der Hilfe gedeckt sind. Ende Oktober richtete es deshalb einen weiteren Appell an die Geber:innen und erklärte, dass es bis zum Jahresende mindestens 700 Millionen Dollar benötige. Mit ausgedrückt wurde die Befürchtung, dass «die nächste Runde von Kürzungen für Menschen in Not katastrophale Folgen haben wird».

Das UNHCR nennt die Finanzierungslücke beispiellos, insbesondere im Kontext langwieriger Krisen. Bereits mussten Leistungen für Geflohene und Binnenvertriebene gekürzt werden.

Die Unterfinanzierung ist auch für andere UN-Hilfsorganisationen ein Problem. Ein Sprecher des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) erklärte, dass die von den Vereinten Nationen koordinierten Hilfsaufrufe bis zum 22. November nur 46,7% der für das gesamte Jahr benötigten Mittel eingebracht hätten, verglichen mit einem Durchschnitt von 55% in den letzten drei Jahren.

«Das lässt die Alarmglocken schrillen. Es sieht so aus, als ob wir auf eine Rekordunterdeckung zusteuern», sagt OCHA-Sprecher Jens Laerke gegenüber SWI swissinfo.ch. Die Krux an der Sache: Die Kluft zwischen den Bedürfnissen und den erhaltenen Geldern wird immer grösser. Zwar wächst der Betrag der Hilfsgelder an, aber langsamer als der Bedarf.

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Zu den Ländern, deren Bedürfnis nach Unterstützung im November noch nicht einmal hälftig finanziert war, gehörten Syrien, Jemen, Somalia, Tschad, die Demokratische Republik Kongo und der Sudan. Ebenfalls unterfinanziert waren Flüchtlingshilfepläne für Syrien, Venezuela und die Rohingya aus Myanmar in Bangladesch. OCHA koordiniert die Aufrufe für die Vereinten Nationen und andere Hilfsorganisationen, nicht jedoch für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Bei den Geber:innern handelt es sich hauptsächlich um westliche Regierungen, zunehmend aber auch um Private.

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Kürzungen zu Lasten der Flüchtlinge

Angesichts der Finanzierungslücke hat das UNHCR bereits Haushaltskürzungen vornehmen müssen. Uganda beispielsweise, das viele Geflüchtete insbesondere aus der Demokratischen Republik Kongo und dem Südsudan aufnimmt, ist derzeit mit einem Ebola-Ausbruch konfrontiert. Das UNHCR sagt, es habe nicht genug Geld für Seife und Hygieneartikel, um die Flüchtlinge vor dem Virus zu schützen.

Im Tschad, der Flüchtlinge aus dem Sudan und der Zentralafrikanischen Republik sowie eigene Binnenvertriebene beherbergt, musste das UNHCR nach eigenen Angaben wegen Kraftstoffmangels die Wasserversorgung in den Lagern unterbrechen. Im Libanon, der vor allem Flüchtlinge aus Syrien beherbergt, erhalten 70’000 bedürftige Flüchtlingsfamilien keine Unterstützung mehr durch das Sicherheitsnetz des UNHCR. Sollte die Unterstützung im Nahen Osten im Winter eingestellt werden, befürchtet die Organisation, dass Familien frieren oder sogar aus ihren Wohnungen vertrieben werden könnten, weil sie die Miete nicht bezahlen können.

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«Wir wissen, dass wir normalerweise nicht das gesamte Budget erhalten, es ist nie vollständig finanziert», sagt Olga Sarrado, eine Sprecherin des UNHCR in Genf. «Das Problem in diesem Jahr ist, dass die 700 Millionen Dollar, die wir bis Ende des Jahres benötigen, wirklich das absolute Minimum sind, um die Grundbedürfnisse zu decken.»

Der Ukraine-Faktor

Für die Unterfinanzierung der Hilfe gibt es verschiedene Gründe, darunter die Auswirkungen von Covid-19 und des Klimawandels sowie die aktuellen wirtschaftlichen Probleme einiger westlicher Länder. Aber auch der Krieg in der Ukraine ist ein wichtiger Faktor.

Er hat die Zahl der Vertriebenen weltweit in die Höhe getrieben: Millionen von ukrainischen Flüchtlingen leben in anderen Ländern und weitere Millionen sind im eigenen Land vertrieben worden. Im Oktober zählten die Vereinten Nationen 7,6 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Europa, von denen 1,5 Millionen alleine in Polen untergebracht sind.

Aber auch andernorts ist der Bedarf gestiegen, sagt Sarrado vom UNHCR, während es angesichts gestiegener Lebensmittelpreise immer teurer wird, Grundbedürfnisse zu decken – ein Nebeneffekt des Ukraine-Kriegs: Der IWF geht davon aus, dass die weltweite Inflation in den Industrieländern 2023 6,6% und in den Entwicklungsländern 9,5% betragen wird.

Langwierige Krisen

Das UNHCR schätzt die Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen weltweit zur Jahresmitte auf 103 MillionenExterner Link; darin eingeschlossen sind Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene. Das ist eine Zunahme von 13,6 Millionen oder 15% im Vergleich zum Ende des letzten Jahres und damit «der grösste Anstieg, der jemals in den UNHCR-Statistiken über Zwangsvertreibungen zwischen den Jahren verzeichnet wurde».

Während in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 die meisten Vertriebenen aus der Ukraine stammten, stieg auch die Zahl der Flüchtlinge aus Venezuela um 21%. Sie sind hauptsächlich nach Kolumbien und in andere lateinamerikanische Länder migriert. Auch in anderen Teilen der Welt nahm die Zahl der Vertriebenen zu, vor allem in Teilen Afrikas und Asiens.

Sarrado stellt fest, dass bei langwierigen Flüchtlings- und Binnenvertriebenen-Krisen häufig eine Müdigkeit bei den Geber:innen auftritt. Demgegenüber würden allein in den 12 Ländern, die im Underfunded Report erwähnt werden, rund 40 Millionen Menschen Hilfe brauchen. «Sie brauchen Unterstützung, aber auch die Solidarität der Länder, die sie aufnehmen», erklärt sie gegenüber SWI. «Es ist wichtig, dass das gleiche Engagement, Mitgefühl und die gleiche Empathie, die die Welt den Ukrainer:innen entgegenbringt, auch all den anderen Menschen zu Teil wird, die auf der Welt vor Konflikten und Unsicherheit fliehen müssen.»

Sie weist auch darauf hin, dass die grösste Anzahl von Flüchtlingen weltweit, die internationalen Schutz benötigen, Syrer:innen sind, gefolgt von Venezolaner:innen und Ukrainer:innen. Dann folgen Menschen aus Afghanistan, Südsudan und Myanmar.

Nur einige kleinere Geber:innen hätten ihre Finanzierung speziell mit der Ukraine verknüpft, sagt Sarrado. Die meisten Geberländer würden «die Bedeutung einer flexiblen Finanzierung verstehen», was heisst, dass das UNHCR etwa 40% seiner Mittel für das verwenden kann, was es als vorrangig erachtet.

Die Flüchtlingskrise in der Ukraine hat dem UNHCR einige neue Geber:innen beschert, insbesondere Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen. «Sie haben beschlossen, Flüchtlinge zu unterstützen, weil sie gesehen haben, was in der Ukraine passiert», sagt Sarrado. Sie hofft, dass diese Unterstützung über das laufende Jahr hinaus fortgesetzt und auf andere Nationalitäten oder Situationen ausgeweitet wird.

Kreative Buchhaltung

Weiter wirkt sich auf die Spenden aus, dass einige Länder einen Teil ihrer öffentlichen Entwicklungshilfe zur Kostendeckung für die Aufnahme von Flüchtlingen abzweigen – insbesondere aus der Ukraine. Nach den international vereinbarten Regeln dürfen die Länder dies zwar tun, aber es scheint, als würden einige dies bis zum Äussersten ausreizen.

Laut Laerke ist diese Praxis schwer zu monitoren, aber OCHA ist bekannt, dass einige Länder, darunter auch solche in Skandinavien, einen Teil der öffentlichen Entwicklungshilfe für Flüchtlinge verwenden. «Sie bezeichnen diese Mittel als humanitäre Hilfe und geben sie im Grunde genommen an sich selbst. Wir sind mit dieser Bezeichnung der humanitären Hilfe nicht einverstanden, aber das ist unsere Meinung.»

Entwicklungsexpert:innen zufolge gibt beispielsweise das Vereinigte Königreich laut einem aktuellen Bericht der Zeitung The GuardianExterner Link inzwischen mehr von seinem internationalen Entwicklungsbudget im eigenen Land aus als in Entwicklungsländern. In dem Bericht, der sich auf Untersuchungen des Centre for Global Development beruft, heisst es, ein grosser Teil werde für die Unterbringung von Flüchtlingen, vor allem aus der Ukraine, ausgegeben. Und das Vereinigte Königreich sei «eines der wenigen Länder – und das einzige in der G7 –, das alle Kosten für ukrainische Flüchtlinge aus seinem bestehenden Entwicklungshilfebudget finanziert.»

Die Schweiz geht davon aus, dass der Anteil der intern verwendeten Mittel aus der Entwicklungshilfe in diesem Jahr steigen wird. In Übereinstimmung mit den Berichtsregeln des DAC, dem Entwicklungshilfeausschuss der OECD, rechne die Schweiz auch die Kosten für die Aufnahme von Asylbewerber:innen, vorläufig Aufgenommenen und Flüchtlingen aus Entwicklungsländern während der ersten 12 Monate der Entwicklungshilfe zu, heisst es auf der Website der Schweizer RegierungExterner Link. Demnach beliefen sich diese Kosten im Jahr 2021 auf 9% der öffentlichen Entwicklungshilfe der Schweiz.

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Auf die Frage, ob die Schweiz 2022 ihre Entwicklungshilfe als Reaktion auf die Forderungen nach mehr Mitteln erhöht habe, antwortete das Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA, dass die Daten für 2022 noch nicht vorlägen. «Aber wir gehen davon aus, dass die Entwicklungshilfe aufgrund des erwarteten Anstiegs der Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen in der Schweiz steigen wird.»

Weiter schreibt das EDA, dass die die Hilfe, die ausserhalb der Schweiz geleistet wird, im Jahr 2022 voraussichtlich sinken werde. Und das «trotz der zusätzlichen finanziellen Mittel, die zur Bewältigung der Folgen des Krieges in der Ukraine gewährt werden».

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Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Marc Leutenegger

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