Die Neutralität der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs wirft weiterhin Fragen auf
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sind die Aussenpolitik der Schweiz und ihre Geschichte wieder in den Vordergrund gerückt. Ein Teil der Vergangenheit bleibt jedoch unbeachtet: die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Nach den Debatten um die Bergier-Kommission Anfang der 2000er-Jahre ist die Diskussion über die Rolle der Schweiz in dieser entscheidenden Zeit eingeschlafen. Um die Debatte wieder in Gang zu bringen, gibt der Historiker Christophe FarquetExterner Link Antworten auf drei wichtige Fragen.
Warum wurde die Schweiz nicht von Nazi-Deutschland überfallen?
Es ist in Mode gekommen, die wirtschaftlichen Leistungen der Schweiz für Nazi-Deutschland als Grund für die Bewahrung der Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft anzuführen.
Dem alten Mythos vom nationalen Réduit wird eine andere, populärere Geschichte gegenübergestellt: das von der Schweizerischen Nationalbank aufgekaufte Nazigold oder die von der Eidgenossenschaft gewährten Handelskredite, die Hitler entscheidend davon abhielten, das Land zu überfallen.
Diese Sichtweise ist jedoch eine Karikatur, die von der Bergier-Kommission selbst nie so formuliert wurde. Ein Blick auf die Chronologie beweist das.
Die Goldtransaktionen der Schweizerischen Nationalbank blieben bis in die zweite Hälfte des Jahres 1941 geringfügig, und der berühmte Kompensationskredit, den Deutschland für Waffenkäufe in der Schweiz nutzte, erlangte erst mit dem Abkommen vom Juli 1941 wirkliche Bedeutung.
Mit anderen Worten: Zu dem einzigen Zeitpunkt, an dem eine Invasion wirklich denkbar war, nämlich im Sommer 1940, konnten diese wirtschaftlichen Transaktionen nur einen begrenzten Einfluss auf die deutsch-schweizerischen Beziehungen haben. Der Wegfall der Bedrohung im Herbst desselben Jahres wiederum war in keiner Weise auf wirtschaftliche Faktoren zurückzuführen.
Abgesehen von den wenigen Einzelbeispielen, die immer wieder ohne strenge Quellenkritik ins Feld geführt werden, widersprechen die Archivdokumente der Vorstellung, dass diese Geschäfte einen bestimmenden Einfluss auf die Entscheide der deutschen Militärführung oder gar Hitlers selbst gehabt hätten.
Tatsächlich waren es weniger der Einfluss des nationalen Reduits oder der Goldkäufe als vielmehr die militärischen Strategien der Achsenmächte, die in erster Linie die Nicht-Invasion erklären.
Nach dem Sieg über Frankreich versuchte Hitler, seine Truppen für künftige Operationen in Grossbritannien und vor allem in der UdSSR zu schonen – ein Motiv, das auch für die Aufrechterhaltung der «freien Zone» in Frankreich ausschlaggebend war.
Italien war nach der schwachen Leistung seiner Armee gegen Frankreich wenig geneigt, den Krieg an seinen Grenzen fortzusetzen, und fürchtete zudem die negativen Auswirkungen einer deutschen Expansion in die Schweiz.
Die wirtschaftlichen Beziehungen spielten also höchstens eine untergeordnete Rolle bei der Wahrung der schweizerischen Unabhängigkeit. Gleiches gilt für das Nationale Reduit, dessen abschreckende Wirkung vor allem auf der Bedrohung der alpinen Eisenbahntransitstrecken zwischen Deutschland und Italien im Fall einer Invasion beruhte.
Es ist wahr, dass jede konterkarierende Argumentation über die Gründe für die Nicht-Invasion ein gewisses Mass an Spekulation enthält, zumal Hitlers psychologische Instabilität jederzeit aus einer Laune heraus zu einer militärischen Operation hätte führen können.
Der Führer kümmerte sich nicht um die Goldgeschäfte, da er aus den überfallenen Ländern weitaus grössere Ressourcen abzog.
Welchen Einfluss hatte die Neutralität auf die schweizerische Aussenpolitik?
Die Neutralität ist für das Verständnis der schweizerischen Aussenpolitik zwischen 1933 und 1945 von zentraler Bedeutung. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die Schweiz in den Jahren vor dem Krieg Nazi-Deutschland kaum unterstützt hat.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Anders als vor dem Ersten Weltkrieg gab es für die Schweiz nur eine wirkliche militärische Bedrohung, und die ging natürlich vom Deutschen Reich aus.
Zudem waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufgrund der deutschen Autarkiepolitik alles andere als harmonisch. Für die NS-Führung war klar, dass die Schweiz als liberale Demokratie den Alliierten nahestehen würde.
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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?
Ab Mitte der 1930er-Jahre verfolgte die Eidgenossenschaft jedoch eine Politik des Ausgleichs zwischen den beiden Lagern. Diese Strategie war Teil einer längerfristigen Tendenz in den Aussenbeziehungen und zielte darauf ab, die Neutralität zu nutzen, um nicht in einen neuen Weltkonflikt hineingezogen zu werden.
In diesem Sinn ist eine Reihe diplomatischer Gesten zu verstehen, die zwischen 1936 und 1939 in Richtung der Achsenmächte unternommen wurden, wie etwa die «Rückkehr zur vollständigen Neutralität» im Mai 1938, als die Schweiz beschloss, das Sanktionssystem des Völkerbunds nicht mehr anzuwenden.
Diese Neuorientierung erfolgte nach dem Austritt Italiens aus der Genfer Organisation aufgrund der Sanktionen, die gegen Italien wegen der Invasion Äthiopiens verhängt worden waren.
Es handelt sich also um eine Entscheidung für eine Neutralität, die über ihre rein militärische Dimension vor dem Krieg hinausgeht. Diese Orientierung setzte sich zu Beginn des Kriegs fort.
Wenn die Wirtschaftsbeziehungen bis zur Niederlage Frankreichs nicht ganz ausgeglichen waren, so deshalb, weil sie sich zugunsten der Alliierten entwickelten, an die bis Mai 1940 fast alle schweizerischen Waffenexporte gingen.
Im Sommer 1940, als die Schweiz von Deutschland und seinen Verbündeten umzingelt war, kam es bekanntlich zu einer Wende: Ohne grossen Handlungsspielraum richtete die Eidgenossenschaft ihre Beziehungen zugunsten des Deutschen Reichs neu aus.
In einer Mischung aus Zwang und Opportunismus wurde dieser Kurs in den folgenden zwei Jahren verstärkt, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet.
Es wäre jedoch falsch zu glauben, die Neutralität sei aus dem Blickfeld des Schweizer Bundesrats verschwunden, der nicht nur das Land aus Konflikten heraushalten wollte, sondern auch versuchte, Verletzungen völkerrechtlicher Prinzipien einzudämmen. Letztlich blieb die Neutralität für die meisten Mitglieder der Landesregierung der aussenpolitische Wunschhorizont.
Als sich die militärische Lage für Deutschland ungünstig entwickelte, balancierte die Eidgenossenschaft zudem ihre internationalen Beziehungen schrittweise neu aus, bevor sie nach Kriegsende keineswegs in die Fussstapfen der amerikanischen Macht trat, sondern rasch zu einer Politik der strikten Neutralität zurückkehrte, die bis zum Koreakrieg andauerte.
Wie viele Jüdinnen und Juden wurden an der Schweizer Grenze zurückgewiesen?
Trotz zahlreicher Publikationen über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz fehlt bis heute die wichtigste Information zu diesem Thema: die Zahl der an der Schweizer Grenze zurückgewiesenen Jüdinnen und Juden. Die Ungewissheit ist so gross, dass die Schätzungen in den Schulbüchern um ein Vielfaches variieren.
Die Bergier-Kommission steht hier in der Verantwortung. Obwohl sich ihre Recherchearbeit auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Nazi-Deutschland und der Schweiz konzentrierte, widmete sie diesem Thema immerhin zwei von 25 Bänden und ein ganzes Kapitel im Schlussbericht. Es war daher klar, dass sich die öffentliche Diskussion sehr stark auf diesen Aspekt ihrer Arbeit konzentrieren würde.
In Bezug auf die sensibelste Statistik begnügte sich die Bergier-Kommission jedoch damit, die eher hypothetischen Ergebnisse einer früheren Untersuchung in vager und missverständlicher Formulierung wiederzugeben. Ihre Feststellung, dass etwa 20’000 Zivilpersonen abgewiesen worden seien, darunter ein «grosser Teil» Jüdinnen und Juden, wurde nicht zu Unrecht kritisiert.
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Historiker kratzen am Bergier-Bericht
Neuere Arbeiten wie das Buch «La fuite en Suisse» von Ruth Fivaz-Silbermann tendieren dazu, die Zahl der an der Schweizer Grenze zurückgewiesenen Jüdinnen und Juden nach unten zu korrigieren. Die oben erwähnte Studie bezieht sich jedoch nur auf die Genfer Grenze.
Und wenn die Forscherin versucht, eine Reihe von Hochrechnungen anzustellen, um zu einer Gesamtzahl von etwa 4000 zurückgewiesenen Jüdinnen und Juden zu gelangen, so spielt sie diese zweifellos herunter, vielleicht um sich klar von der Bergier-Kommission abzugrenzen.
Noch deutlicher wird dies, wenn Serge Klarsfeld in seinem Vorwort zu diesem Buch die Zahl der Vertriebenen vorsichtig auf 3000 schätzt. Nach dem heutigen Stand der Forschung muss man wohl eher von 5500 Menschen ausgehen. Dies ist jedoch nur eine grobe Schätzung, die durch weitere Forschung verifiziert werden sollte.
Die Archivakten existieren und die Ressourcen vieler Archive sind noch nicht erschöpft. Man muss nur anerkennen, dass die Diskussionen noch nicht abgeschlossen sind, und sie wieder aufnehmen.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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